Magisterarbeit: "Blaue Blume im Gemüsegarten. Ausgewählte Fragen zur Koexistenz eines romantischen Individuums mit der Gesellschaft geschildert in Novalis` „Heinrich von Ofterdingen“



WYŻSZA SZKOŁA FILOLOGICZNA
we Wrocławiu
Katedra Neofilologii






Joanna Kuruc


Błękitny kwiat w ogrodzie warzywnym
Wybrane problemy indywiduum romantycznego
wobec koegzystencji ze społeczeństwem
ukazane w „Henryku z Ofterdingen” Novalisa



Praca magisterska
napisana pod kierunkiem
dr Agnieszki Jóźwiak






Wrocław 2012



WYŻSZA SZKOŁA FILOLOGICZNA
we Wrocławiu
Katedra Neofilologii






Joanna Kuruc


Blaue Blume im Gemüsegarten
Ausgewählte Fragen zur Koexistenz eines romantischen Individuums mit der Gesellschaft
geschildert in Novalis` „Heinrich von Ofterdingen“



Praca magisterska
napisana pod kierunkiem
dr Agnieszki Jóźwiak






Wrocław 2012





 








0. Vorwort



Das Individuum und der Subjektivismus sind Worte, ohne die eine Charakteristik der deutschen Romantik undenkbar wäre; sie gehören zu Lieblingsgenständen der damaligen Philosophie, Theologie und Literatur. In der Zeit der Romantik erklärte man das subjektive Empfinden für eine natürliche Eigenschaft des Menschen. Somit wurde eine durchaus Ich-bezogene Wahrnehmung aller Dinge zum Grundriss des Epochenbildes.
Wenn man aber annimmt, dass das subjektive Erlebnis das einzig Wirkliche wäre, so muss man die Kluft, die sich infolgedessen zwischen einzelnen Individuen schlägt, als eine unvermeidbare Folge davon berücksichtigen. Bleibt diese Spaltung für das Individuum etwas Faszinierendes, so bereitet sie ihm auch Schmerzen. Die schrecklichste Qual bringt das Bewusstsein der darin mündenden Einsamkeit.
Diesem Problem gesellt sich noch ein anderes: Wo nämlich ein Individuum auf Grenzen stößt, wo man ihm Zügel irgendwelcher Normen einzusetzen versucht, dort muss es zu Konflikten kommen. Die Festlegung der meisten Grenzen ist der Gesellschaft zuzuschreiben.
Der vorliegenden Arbeit stellt sich eine doppelte Aufgabe.
Erstens wird hier, nach einer kurzen Charakteristik der Epoche, romantische Theorie in Bezug auf das Problem vom Individuum in der Gesellschaft dargestellt. Es erweist sich als hilfsreich, das uns interessierende Thema auf dem Hintergrund der einzelnen Hauptmotive der Epoche unter die Lupe zu nehmen.
Das zweite Anliegen dieser Arbeit besteht darin, diese Theorie, schon aber in der in die schriftstellerische Praxis umgesetzten Form zu untersuchen. Ein Held aus einem der Hauptwerke der deutschen Frühromantik soll Gegenstand folgender Untersuchung sein. Es handelt sich um den jungen Heinrich aus dem unvollendeten Roman „Heinrich von Ofterdingen“ geschrieben von Novalis – und um genauer zu sein, um seinen Weg nach Koexistenz mit der Gesellschaft im ersten – vollendeten – Teil des Romans.  Das Verhalten der Hauptfigur ihren Mitmenschen gegenüber lässt sich natürlich oft durch bisherige Erfahrungen mit den Letzteren erklären. Umso interessanter erscheint die Frage, welche Konflikte und Probleme entstehen, und weiter – ob sie zu überwinden wären oder nicht, und wenn ja, dann wie. Es ist prüfenswert, wie der Schriftsteller seinen Helden in der Gesellschaft leben ließ und welche Auswege und Methoden des Handelns in Problemsituationen er für ihn fand. 
Die ganze Untersuchung soll die Antwort geben, inwieweit es für ein romantisches Ich möglich ist, in der Gesellschaft ungestört zu existieren und wie es sich den Anderen gegenüber verhalten sollte, um sich eine friedliche Koexistenz mit ihnen zu erringen, ohne dabei seine eigene Individualität opfern zu müssen.
Der Ausgangspunkt – der Interessenkonflikt – ist schon im Titel der vorliegenden Arbeit mit eingeschlossen. Die Gegenüberstellung des romantischen Ich und der Gesellschaft verbirgt sich hinter den Sinnbildern von der blauen Blume und dem Gemüsegarten. Das letztere konstruierte die Autorin der vorliegenden Magisterarbeit selbst, um seine Antinomie der blauen Blume gegenüber zu betonen. Ein Gemüsegarten ist nämlich ein Ort, wo die Schönheit, das Ästhetische, das Erhabene und das Außergewöhnliche normalerweise nichts zu suchen haben. Dort zählen nur solche Pflanzen, die vom Nutzen sind. Genauso sieht es mit der Gesellschaft aus: für sie zählt das Praktische: die Produktions- und Reproduktionskräfte,  die Arbeitsfähigkeit und ein gewisser Gleichschritt im Handeln und Denken. Ein romantisierendes Individuum, ein Mystiker, ein Poet – sie passen hier nicht überein. Das Symbol der blauen Blume, die hier als Sinnbild solch eines Individuums benutzt wird, stammt von Novalis – aus seinem unvollendeten Roman „Heinrich von Ofterdingen“. Dieses Symbol wurde von den Literaturforschern verschiedenartig interpretiert. In den meisten Fällen steht es für die Erfüllung, fürs Absolute, für das Erhabenste, was man finden oder erleben kann; für manche kann das die Poesie und die Liebe bedeuten; Der Geisteswissenschaftler Rudolf Steiner ging einen Schritt weiter und interpretiere das Anschauen der blauen Blume als ein mystisches Erlebnis, eine Offenbarung der höheren Welten, das Hineinschauen in die Sphären des Geistes; und als Resultat dieser Anschauung – dieser Offenbarung – die innere Entwicklung des Menschen, das Hinaufsteigen auf eine höhere Stufe des Menschentums (Vgl. Prokofieff 1987). Für die Zwecke dieser Arbeit bleibt es jedoch unwichtig, wie man dieses Symbol von Novalis selbst versteht, denn hier wird das zu untersuchende Problem von den Höhen des Himmels wieder auf die Erde hinuntergeführt: auf die irdische Existenz eines solchen Menschen, der in seinem Inneren die Sehnsucht nach der blauen Blume trägt, auf seine irdische Existenz unter anderen Menschen, die kaum Interesse an den schönen Blumen zeigen.

1.   Epochenbild der Romantik im Abriss



1.1 Romantik als kulturgeschichtliche Epoche

Unter dem Namen Romantik versteht man eine kulturgeschichtliche Epoche, die um Ende des 18. Jahrhunderts, etwa um das Jahr 1795 begann. Die zeitlichen Endgrenzen sind fließend und fallen ungefähr auf Biedermeier/Vormärz und Junges Deutschland.[1] Der Begriff „Romantik“ umfasst sowohl Literatur als auch Musik[2] und die bildende Kunst.
Üblicherweise teilt man die Epoche in drei Phasen auf, etwa die Früh- die Hoch- und die Spätromantik.

Die Frühromantik (ca. 1795 – 1804).
Die Frühromantik ist durch das Streben nach einem neuen philosophisch-ästhetischen Programm gekennzeichnet; hinzu kam auch die Förderung der Frauenemanzipation[3] und der freien Liebe. Die Brüder Friedrich und August Wilhelm Schlegel, Friedrich Wilhelm Schelling, Heinrich Wackenroder, Friedrich von Hardenberg (Novalis) und Ludwig Tieck sind mit der Frühromantik zu assoziieren, die nach dem örtlichen Zentrum die Jenaer Romantik[4] genannt wurde. Die Zeitschrift „Athenäum“[5] war das Programmblatt dieser ersten Phase (Böttcher et al. 1973: 79,106-107 [1966]).

Die Hochromantik (1804 – 1815).
Die Heidelberger Romantik, mit ihren Hauptvertretern Clemens Brentano, Achim von Arnim und den Brüdern Jacob und Wilhelm Grimm widmete sich schon anderen Themen. Vor allem sind hier das Interesse am Volkstum, Geschichte und sprachwissenschaftliche Forschung auffallend (Vgl. Bark et al. 1989: 182,183). Auch Joseph von Eichendorff und Ernst Theodor Amadeus Hoffmann sind schon während der Zeit tätig.

Die Spätromantik (1815 – 1848).
Die Spätromantik, mit Zentren in Berlin, Wien, Nürnberg, Karlsberg, Heidelberg, und repräsentiert u.a. von Eichendorff und E.T.A. Hoffmann, Ludwig Tieck, Ludwig Uhland, Friedrich de la Motte Fouqué, Achim von Arnim und Clemens Brentano, war eher reaktionärer Natur, einerseits gekennzeichnet durch die Hinwendung zum Katholizismus und durch die Unterordnung unter Ganzheiten wie Kirche, Religion, Volk und Staat, andererseits (besonders während dieser späten Phase) entwickelte sich auch die sogenannte Schwarze Romantik, auch Schauerromantik genannt, wo die Schattensete der menschlichen Psyche und das Unterbewusste zum Gegenstand literarischer Forschung wurden. (Vgl. Bark et al. 1989: 182,183)

1.2  Romantik als kritische Reaktion auf die Aufklärung

Romantik war in vielerlei Hinsicht eine kritische Reaktion auf die Epoche der Aufklärung, das heißt auf die fortschrittsoptimistische Epoche der Vernunft, des Strebens nach einem rational organisierten Gesellschaftssystem. Es gab mehrere Ursachen einer solchen Kritik.
An der im Geiste der aufklärerischen Werte ausgelösten Französischen Revolution beobachtete man das allmähliche Scheitern ihrer Ideale. Die Französische Revolution, deren hohe Ideen von Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit sich aus den aufklärerischen Zielsetzungen etabliert hatten, die jedoch bald in einen Kampf um Macht und Haben ausartete, bedeutete für die Romantiker eine totale Niederlage des Zutrauens, wenn es sich um die Kraft der Vernunft handelt. Der Missbrauch und die rücksichtslose Herrschaftsschicht, die die vorige verschlungen und sich dann zu einer neuen entwickelt hatte, überstanden diese Probe. „Die Enttäuschung … konzentrierte sich in der Erfahrung, daβ die neue Epoche weder die allgemeine Gleichheit und Freiheit, noch ein wahrhaftes Menschentum gebracht habe, sondern neue scharfe soziale Gegensätze“ (Böttcher et al. 1973: 46). Die Romantiker konnten sich übrigens mit dem Übertritt vom Feudalismus zum Kapitalismus nur schlecht abfinden.
Die Aufklärung ersah sich als Ziel die Welt der rücksichtslosen Herrscher, der Tyrannei von Adligen und der institutionellen Kirche, die Welt des Missbrauches und des Aberglaubens kraft einer intellektuellen Erziehung zu verändern. Als Orientierungskompass gepriesen wurde die Vernunft. „Das Schwärmerische Gefühlsmäßige, Mythisierende, Andächtelnde, waren Bewuβtseinhaltungen, zu denen das klare Verstandesdenken der Aufklärung … in Widerspruch stand“ (Böttcher et al. 1973: 47, 48). Der aufklärerische Utilitarismus gab nur dem einen Wert, was sich nützlich erweisen konnte – das das galt auch in Bezug auf die Literatur, welcher Zweck das Belehren und eben die Erziehung war.
Rasche Entwicklung der Technik und Übergang zum Kapitalismus sind weitere Prozesse, die mit der Aufklärung in Zusammenhang gebracht werden müssen. Die positive Beurteilung des technischen Fortschritts wurde zum ersten Mal schon in den Schriften von J. J. Rousseau (1712-1778) in Zweifel gezogen. Der französische Philosoph fragte seine Zeitgenossen nach dem Raum für einen einzelnen Menschen in den neulich entstandenen strengen Strukturen, betonte die Zugehörigkeit des Menschenwesens in die Natur und die Gefahren der Industrialisierung, die diesen Zusammenhang ganz zerstören könnte. Die Rousseausche Philosophie bemächtigte sich schnell der Literatur; sie fand ihren stärksten Widerhall in der Sturm-und-Drang-Bewegung. In den Ländern, wo diese Periode nicht auftauchte, pflegt man sie mit der Bezeichnung Prä- oder Vorromantik zu versehen. Die Sturm-und-Drang-Autoren, wie Goethe oder Schiller griffen nach den Gefühlen, betonten das Individuelle, verliehen dem Individuum also wieder das Recht zum Existieren und vor allem setzten den Rousseuschen Gedanken im Bereich der Naturvorstellungen fort – die Notwendigkeit der Rückkehr zur Natur. Ihre politischen und gesellschaftlichen Ansichten gehörten aber noch dem Programm der Aufklärung und der klassisch-idealistischen Philosophie. Das war wahrscheinlich der Grund, warum, nachdem sie kurz die Literatur mit dem neuen Gedankengut leidenschaftlich berauschten, dann aber irgendwie zurückschraken und ganz bußfertig in den marmornen Schoß der harmonischen Antike, dieses Vorbild der Aufklärer, wiederkehrten. Die Weimarer Klassik umfasste also all die Autoren, die allzu sehr in der Vernunft geübt waren, um die loszuwerden. Die aufkommende junge Generation der Romantiker wird solche Hemmungen nicht mehr kennen.[6]
Es muss hervorgehoben werden, dass die Aufklärung der neuen jungen Generation auch deswegen verhasst war, weil sie sich grundsätzlich aus Negation der mittelalterlichen Bewusstseinshaltungen  entwickelt hatte, in die sich die Romantiker zurück zu flüchten versuchten. Novalis beispielsweise nannte das Mittelalter „unschuldig“, während die Reformation und die Erfindung der mechanischen Uhr die schwersten Sünden in der Menschheitsentwicklung für ihn bedeuteten, die die bisher religiös einheitlichen Europäer geteilt und ihren naturgebundenen Lebensrhythmus gestört hätten (Vgl. Schmitt 1993, 1: 161-182). Die Aufklärung wiederum sah im Mittelalter nur „die dunkle Zeit“.  Dies war für die Romantiker ein Grund für eine heftige Polemik.

1.3  Kennzeichen und Themenfelder der Romantik

Die wichtigsten Themen und Motive der Epoche waren unter anderen: Sehnsucht, Liebe und Leidenschaft, das Individuum, Verherrlichung des Mittelalters, Phantastik und Fabelwesen, Mystik, Nacht, Natur, Fernweh, Wandermotiv, Spiegelmotiv, Inversion; auch Nationalgefühl.

„Der romantische Geist ist vielseitig, musikalisch, versuchend und versucherisch, er liebt die Ferne der Zukunft und der Vergangenheit, die Überraschungen im Alltäglichen, die Extreme, das Unbewuβte, den Traum, den Wahnsinn, die Labyrinthe der Reflexion. Der romantische Geist bleibt sich nicht gleich, ist verwandelnd und widersprüchlich, sehnsüchtig und zynisch, ins Unverständliche vernarrt und volkstümlich, ironisch und schwärmerisch, selbstverliebt und gesellig, formbewuβt und formauflösend.“ (Safranski 2007: 13)

Das Wunderbare.
Man fand Vergnügen an allem, was geheimnisvoll, magisch, sagenhaft war. Im Falle der Schauerromantik platzierten die Autoren Handlungen ihrer Romane und Erzählungen an solchen, sich eines schlechten Rufes erfreuenden Orten wie Friedhöfe, Ruinen einer verfallenen Burg, Walddickichten oder gespenstische, im Schatten und Vollmondlicht versunkene Naturlandschaften. „Die Lust am Geheimnisvollen und Wunderbaren … ist das Symptom eines Mentalitätswandels, der den rationalistischen Geist zurückdrängt“ (Safranski 2007: 54).

Das Gefühl- und Geistvolle
Die romantische Poesie war auf die Innerlichkeit der Gefühle gerichtet. Verspürt wurde die Sehnsucht, gesucht eine Erfüllung und doch war man sich der Unerfüllbarkeit des Erwünschten bewusst[7].
Für viele ergab sich die christliche Kirche erneut als das, was ein breites Spektrum der tiefgreifenden, geistigen Erlebnisse ermöglicht, und zwar mit bunten, intrigierenden Bräuchen im Hintergrund dazu.[8] Viele, mit Friedrich Schleiermacher beginnend, glaubten auf der Basis der christlichen, eine neue Betrachtungsweise von Religion erschaffen zu haben – eine ästhetische, poetische und frohe, die jedem Individuum, welches zu phantasieren fähig war, die „Teilhabe am Göttlichen“ (Safranski 2007: 143) ermöglichte. Die Unsterblichkeit laut Schleiermacher sei „mitten in der Endlichkeit eins werden mit dem Unendlichen und ewig sein in einem Augenblick“ (Safranski 2007: 143). Die Poetik des Novalis charakterisierte Friedrich Schlegel als „esoterisch“ (Ritzenhoff 2004: Klappentext [1988]) Die Verwendung einer solchen Bezeichnung, die normalerweise nur für das religiöse Wortschatz vorbehalten ist, zeugt von einer besonderen Vergeistigung der Poesie des Autors.

„Progressive Universalpoesie“.
Abgelehnt und verneint wurden alle strengen Formen, die, einst in der „geordneten“ Antike erdacht, von allen nachkommenden Epochen wiedeholt wurden. Die Romantik brachte eine gewisse Revolution mit sich, wenn es darum geht – nicht nur blieb man nicht mehr an die drei Aristotelischen Einheiten gefesselt – man tat viel mehr, indem man in einem Werk mehrere unterschiedliche Gattungen miteinander verschmelzen ließ. So finden sich in den romantischen Romanen Prosa und Lyrik bei- oder sogar ineinander stehen, die Dichtung begleiten philosophische, theologische und wissenschaftliche Inhalte, es gibt da Märchen, Lieder, traumähnliche Visionen und praktische Überlegungen. Die geliebte Form (oder Unform, je nachdem) neben den Romanen waren die sogenannten Fragmente – ein vollendetes Werk, das unvollendet wirkt – Vermutungen und Überlegungen erzeugt oder die Einbildungskraft anstrengt. Diese Verschmelzung aller möglichen Formen trägt den Namen “progressive Universalpoesie”[9]. Es besteht die Frage, wozu die Verschmelzung dienen sollte. Wie gesagt – jede Grenze musste zerrissen werden – auch diese, die die Literatur vom Leben trennte. Der Vorgang, in dem diese Scheidung niedergerissen wird, bezeichneten Friedrich Schlegel und der mystische Poet Novalis als „romantisieren“ (Safranski 2007: 58). „Jede Lebenstätigkeit soll sich mit poetischer Bedeutsamkeit aufladen, soll eine eigentümliche Schönheit zur Anschauung bringen und eine Gestaltungskraft offenbaren, die ebensogut ihren ‚Stil‘ hat wie das Kunstprodukt im engeren Sinne. Überhaupt gilt ihnen [den Romantikern] Kunst weniger als Produkt denn als Ereignis, das immer und überall stattfinden kann, wo Menschen ihre Tätigkeit mit gestalterischer Energie und vitalem Schwung verrichten. Novalis ist davon überzeugt, daß sich auch ‚Geschäftsarbeiten‘ poetisch behandeln lassen. Das Leben muß mit Poesie durchdrungen werden“ (Safranski 2007: 58-59).

Das „Gesamtkunstwerk“.
Wie es am Anfang des Kapitels angedeutet wurde, soll man die Romantik nicht nur als eine literarische Epoche verstehen; sie äußerte sich auch in der Malerei und in der Musik, dieser “Sprache jenseits der Sprache”. Und, man muss das stark betonen, es war der Wunsch der Romantiker, diese drei Dimensionen zu verbinden und damit eine neue, vollkommene, über alle möglichen Ausdrucksmittel verfügende zu erreichen. Der Wunsch nach diesem „Gesamtkunstwerk“ blieb nicht passiv geträumt, viele strebten wirklich danach. Es gab Musiker, die zusätzlich zu schreiben versuchten und es gab Autoren, die auch als Komponisten gelten. Dazu kommt noch der gewisse Sinn für Farben. Es bediene als Beispiel einer der phantastischen Romanen von E. T. A. Hoffmann, in dem es die Rede von einem Kleidungsstück in der Cis-Moll-Farbe ist (Vgl. Straszewska 1969: 103). Auch war das Theater ein Ort, wo Worte, Bilder und Klänge auf eine bis damals nie gekannte Art aufeinander trafen.

Viele Individuen unter einer Fahne und ihre Abneigung gegen Begriffe.
Die Romantik und all das, was an ihr romantisch ist, lässt sich nur schwer definieren. Erstens erschwert es die Tatsache, dass die Romantiker jegliche Begrifflichkeit vermieden. Stattdessen wählten sie für ihre Kritiken, Fragmente und theoretisch-philosophische Schriften eher eine beschreibende, oft poetisierte Art und Weise der Auseinandersetzung. Zweitens muss man Folgendes feststellen: Trotz allen Ideen und Themen, welche die Romantiker miteinander verbanden, erwies sich der von ihnen gesehnte und gesuchte Individualismus als ein Faktor, der sie voneinander stark unterscheidet; von einer Verallgemeinerung gibt es deswegen keine Rede.
Die Proben, die Romantik als eine philosophisch-literarische Strömung endgültig und zusammenfassend zu definieren, bereiteten sogar den Menschen der Epoche große Schwierigkeiten: Friedrich Schlegel soll einmal seinem Bruder geschrieben haben, dass er „mit den Definitionen der Romantik 25 Seiten füllte“ (Straszewska 1969: 10). Maria Straszewska, die gegenwärtige Autorin wählt in einer den Studien über die Epoche gewidmeten Arbeit die Worte von Paul Valéry zu dieser als ein Motto: „Man müsste das Exaktheitsgefühl loswerden, um die Romantik zu definieren.“ Ironischerweise kann das als ein weiteres Merkmal der Romantik verstanden werden.

1.4  Philosophische Inhalte in der „progressiven Universalpoesie“

Romantische Philosophie entwickelte sich aus kritischen Auseinandersetzungen mit der klassisch-idealistischen Philosophie, geprägt vor allem von Immanuel Kant, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Johann Gottlieb Fichte. Zu ihrer Denkweise, und selbst zu Fichte, dem „Entdecker der menschlichen Subjektivität“, (Böttcher et al. 1973: 41), stand jedoch der romantische Kult einer schrankenlosen Individualität in starker Opposition. Außerdem, wenn „Fichte das Sein auf das Tun zurückführte“, war die romantische Philosophie „Apologie der Tatlosigkeit“ (Böttcher et al. 1973: 44).
Zu den wichtigsten Philosophen der Romantik gehören Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher und der Dichter Novalis.[10] Ein besonderer Zug der romantischen Philosophie besteht in ihrer Verbindung mit der Religion. So war es zum Beispiel Novalis` Absicht, Mystik und Philosophie wieder zu versöhnen (Senckel 1983: 5).
Die Teilnahme der Schriftsteller und Poeten an philosophischen Auseinandersetzungen war in der Romantik üblich. Die “progressive Universalpoesie” zeigt sich dem Leser voll von philosophischen, theologischen und ästhetischen Inhalten. Philosophen und Dichter waren auch miteinander befreundet und deswegen, aus natürlichen Gründen, übten sie auch aufeinander einen nicht geringen Einfluss aus. Schleiermacher beispielsweise wagte seine neue Religion und andere Theorien der Welt zu verkünden, nur weil er bei seinen Freunden Unterstützung und Einstimmung fand – während viele außer diesem Kreis davon entsetzt waren (Safranski 2007: 148). Novalis entnahm dem Theologen (und auch den übrigen Freunden) sehr viel, bereicherte es dann mit eigenen Vorstellungen, verlieh all dem die Zauberkraft seines poetischen Talents und schuf Werke, die sich dann nicht weniger prägend erwiesen.
“Nicht weniger” sollte in diesem Fall eigentlich weggestrichen werden, denn es ist eben Novalis, dem die Romantik ihr Sinnbild verdankt. Die mystische blaue Blume, aus seinem unvollendeten Roman “Heinrich von Ofterdingen” ist als Symbol fürs Absolute, für die Erfüllung zu verstehen. Seit der Veröffentlichung des Romans wurde die blaue Blume von allen Romantikern eifrig gesucht.

1.5  Romantisches Erbe in den nachkommenden Epochen

Es ist noch niemandem gelungen, endgültig zu bestimmen, wann (wenn überhaupt) die Romantik als philosophisch-ästhetische Strömung zu Ende ging. Denn das Romantische gleicht einem Phönix, der immer wieder neugeboren wird und sich von der Asche erhebt, es taucht entweder in einzelnen Menschenwesen oder ganzen Epochen auf, um nur Symbolismus, Impressionismus oder etliche neo-romantische Strömungen als Beispiele zu nennen. Eine aufschlussreiche Aussage, die das ständige Wechseln von  Wiedergeburt und Absterben des Romantischen zu erklären vermag, findet sich in einem Interview mit dem polnischen Schriftsteller Witold Jabłoński, wo er seine Bemerkungen über den Zustand der gegenwärtigen Prosa aus der Gattung der sogenannten Phantasy folgendermaßen formuliert:

„Ungefähr in der Zeit nach dem Mauerfall in Berlin brach der Glaube an die Errungenschaften des Fortschrittes zusammen und es kam, meiner Meinung nach, eine total neue Epoche. Sie ähnelt ein bisschen der Präromantik um die Wende des 18. und 19. Jahrhunderts, wo man an dem Verstand auch zu zweifeln begann und das infolge der Enttäuschung nach der Französischen Revolution. Die neue Generation wendete sich zum Irrationalen, zu den alten Legenden und Mythen. Die aufgeklärten Kritiker konnten die Erscheinung überhaupt nicht begreifen …, genau wie die heutigen Rezensenten, erzogen im Geiste der realistischen und psychologischen Literatur und in den formalen Experimenten, welche im 20. Jahrhundert in der Mode waren. … Meiner Meinung nach schreiben wir jetzt etwas in der Gestalt gotischer Novellen, eine neue Ära in der Literatur vorhersagend, eine irrationalere, märchenhaftere und magischere. Mir scheint das übrigens ganz logisch, denn in der Geschichte der europäischen Kultur existierte immer eine Flechtarbeit dieser Art. Nun kam die Zeit für die nächste Neo-Romantik, für das neue Mittelalter…“
(http://www.esensja.pl/ksiazka/wywiady/tekst.html?id=1643&strona=2).

2.   Romantische Vorstellungen vom Individuum in der Gesellschaft



2.1  Entwicklung der Subjektivität in der frühromantischen Philosophie und Literatur

Die Romantik ist als die Epoche einer absoluten Verherrlichung des Subjektivismus` und der Individualität zu verstehen (Böttcher et al. 1973: 43). Die klassische Philosophie, insbesondere die von Johann Gottlieb Fichte (1762-1814), dem „Entdecker der menschlichen Subjektivität (Böttcher et al. 1973: 42), erwies sich hierfür als eine günstige philosophische Unterfütterung. Diese wurde von den Romantikern kritisch bearbeitet und weiterentwickelt. In der Folge dieser Bearbeitung und Entwicklung ist die romantische Philosophie in ihrer Wirklichkeitsauffassung eigentlich Gegensatz der philosophischen Klassik geworden (Böttcher et al. 1973: 53).
Schon seit der Aufklärungszeit lässt sich ein vermehrtes Interesse an dem Ich erkennen. Wichtige gesellschaftliche und ökonomische Umbrüche führen zur Herausbildung einer neuen, bürgerlichen, Identität. Das neue Ich, welches in der frühbürgerlichen Literatur, etwa bei Schiller oder Goethe, fündig ist, „läβt sich bezeichnen als isoliertes, einsames Ich“ (Meding 1981:1). Gleichermaßen aber erscheint dieses Leiden an der Einsamkeit als bewusste Entscheidung eines Individuums, kein gewöhnliches und reflexionsloses, und demzufolge ein sinnloses Leben zu führen (Vgl. Meding 1981: 2) Stark, wie noch nie zuvor, schlägt sich die Kluft zwischen dem Ich und der Außenwelt. „Das Ich ist gekennzeichnet durch den Willen zur Freiheit und zugleich durch das Bewuβtsein von der Notwendigkeit der Gemeinschaft, der Zugehörigkeit zur menschlichen Gesellschaft“ (Meding 1981: 3). Die Gesellschaft setzt der Freiheit Grenzen, das Ich will über die Grenzen hinaus, und doch kann es ohne die Gesellschaft nicht existieren. Philosophen und Schriftsteller sind bemüht, einen Ausweg aus diesem Teufelskreis zu finden.
Immanuel Kant (1724-1804), der große Aufklärer, wollte den Weg nach Freiheit durch das Wegräumen aller Sinnlichkeit, möglich machen (Meding 1981: 8). Der Philosoph glaubte, der Mensch stehe im Konflikt mit der Natur, weil er nicht mehr an ihr gebunden sei. Dies bedeutet, dass er „Herr über die Natur in sich und außer sich“ sein sollte, und „als Vernunftwesen … selbst Ursache seiner Handlungen“ (Meding 1981: 9). „Herr über die Natur in sich“ – bedeutet so viel, wie die Fähigkeit zu besitzen, die Sinnlichkeit als innerlichen Führer aus sich zu verbannen und anstelle dieser, allein die Vernunft zu setzen. Nach Ansichten Kants sei nur derjenige ein freier Bürger, wer ein von eigenem Pflichtgefühl getriebener, rastlos arbeitender Tatmensch ist. Kant will keine Passivität leiden, das gilt sogar für Kunst und Kultur, deren Rolle sei es, die Sittlichkeit zu verwirklichen (Meding 1981: 9-10).
Johann Gottlieb Fichte, Vertreter des deutschen Idealismus, entwickelte das Kantische System weiter, sich jedoch von vielem abgrenzend und vieles kritisierend. „Bezogen auf die Frage, was das Primäre sei, Subjekt oder Objekt …, entschied Fichte sich gegen die Aufklärung und vor allem gegen die aus ihr sich legitimierenden Dogmatiker für die subjektive Seite. … Das Fichte`sche Ich ist insofern frei, als es sich selbst reflektierend durchschaut und so Autonomie gewinnt, und zwar Autonomie in Theorie und Praxis, im Denken und Handeln“ (Meding 1981: 13-14).  Dadurch lässt sich aber das Eine nicht ändern, nämlich die Einsamkeit des Ich – ganz im Gegenteilt – sie wird noch in der Selbstreflexion vertieft (Meding 1981: 17).
Die Frühromantik stellte Folgendes fest: auch der freie Mensch bedürft eines „Du“ (Meding 1981: 18). „In diesem Du, das kein empirisches menschliches Gegenüber zu sein braucht, sondern auch das Andere im Ich sein kann – nur mit diesem gemeinsam ist Vollendung überhaupt möglich, – erweist sich die Freiheit“ (Meding 1981: 26). Zwar begrenzt die Freiheit des Anderen unsere eigene Freiheit, doch man sollte sich trotzdem bemühen, das eigene Ich mit der Welt zu versöhnen. Auf die Versöhnung des Widerspruchs kommt es an. „Sich finden im anderen, also in der Liebe und in der Freundschaft – das ist das romantische Konzept der Versöhnung von Ich und Welt, Freiheit und Bindung“ (Meding 1981: 27).
Zur Versöhnung sollte auch zwischen Sinnlichkeit und Vernunft kommen. Die Theoretiker der Frühromantik glaubten, dass die beiden gleichwertige Erkenntnisqualitäten sind. „Novalis konstruiert die Idee – und das ist die zentrale Wendung der Romantik –, daβ nur in einem Rollentausch von Fühlen und Denken die freie Subjektivität gedacht werden könne“ (Meding 1981: 23).

2.2  Ein „Du“ für das romantische Ich

Wie oben schon angedeutet wurde, stellten die Romantiker die Notwendigkeit einer Bindung für das Ich fest, wenn es nicht an Einsamkeit und Verzweiflung leiden soll.
Mit der Gesellschaft wird jedoch das romantische Ich nie eine partnerschaftliche Beziehung aufbauen können, da es sich ihren allzu vielen und strengen Gesetzen und Normen nie unterwerfen könnte. „Der Staat sei nicht fähig, das Leiden abzuschaffen, die Sehnsucht nach Freiheit und Frieden in der Gemeinschaft zu realisieren, denn wenn er mächtig sei, sei er auch despotisch“ (Meding 1981: 32).
Der Staat und seine Gesellschaft, welche gewöhnlich allen Freiheiten Grenzen setzen, wurden von dem rebellierenden, und deswegen auch oft leidenden und verfremdeten romantischen Individuum als eine feindliche, versklavende Macht empfunden (Vgl. Straszewska 1969: 62), die nicht imstande sein kann, seine Bedürfnisse und Nöte zu begreifen.
Doch auch wenn es um die Frage nach der besseren Haltung gegenüber der Gesellschaft geht, d.h. ob man sich so weit wie möglich zurückziehen sollte, oder aber ein engagiertes Leben führen – auch hier war die Romantik nicht einheitlich. Es gab unter den Vertretern der Epoche engagierte Künstler, die die großen romantischen Ideale in der Welt durchsetzen wollten, und es gab solche, die in der Kunst eher die Flucht vom Leben in der Welt suchten (Straszewska 1969: 65). Die ersteren vertraten die Meinung, die Aufgabe der Kunst besteht darin, sich in das gemeinsame Werk der Verbesserung der Welt aktiv zu engagieren, statt auf die gegenwärtige Konflikte blind zu bleiben (Straszewska 1969: 66). Für die letzteren hingegen, war es unmöglich, sich an irgendeinem Imperativ der Pflicht zu halten. Die damals oft wiederholte Parole „Kunst um der Kunst willen“ hing mit der Verneinung der gesellschaftlichen Mission der Kunst zusammen (Straszewska 1969: 66.).
Eine für alle Romantiker gemeinsame Anschauung betraf Unstimmigkeit mit jeglicher Form der Unterdrückung, sei es eine gesellschaftliche oder eine politische. Dagegen waren sie besonders empfindlich. Auch den menschlichen Egoismus wollten sie nicht leiden – dieser wurde von ihnen als schwärzeste Pest verschrien. Ebenfalls heftig prangerten sie den Kapitalismus und die verlogene spießbürgerliche Moral an (Straszewska 1969: 67).
Es erhebt sich die Frage, woanders ein partnerschaftliches „Du“ für das Ich zu finden wäre, wenn dies im Staat und der Gesellschaft nicht realisierbar ist.
Die eine Möglichkeit besteht in der Liebe, die andere wäre Freundschaft. Wie es mit der romantischen Liebe war, darauf kommen wir später; zuerst wird die einzigartige romantische Freudschaft besprochen werden, die in der Künstlergemeinschaft mündete.
Wenn wir uns in die Lebensläufe der bedeutendsten frühromantischen Theoretiker und Dichter vertiefen, bestimmt entgeht uns nicht die Tatsache, dass sie alle um die Jahrhundertwende eng beieinander zusammen in Jena wohnten, oder oft dorthin reisten, um sich dort für kürzere oder längere Zeit aufzuhalten. Diese dichterische Bevölkerungsdichte war natürlich kein Zufall. Es war geplant, möglichst nah beieinander zu sein.
Zuerst sollte Berlin zum Zentrum der neuen Bewegung werden. Dort existierte schon die „Dachstube“ – das von Rahel Levin geführte Salon, das als erstes die gesellschaftliche Lücke füllte und das „Bedürfnis nach unzensierten, öffentlichen, also nicht geschriebenen Austausch von Informationen, Meinungen und Ideen“ stillte (Meding 1981: 41).  Fichte, Schlegel und Schleiermacher, Dorothea Mendelssohn-Veit und Rahel Levin hatten sich zunächst vorgenommen, auch Caroline Schlegel mit ihrer Tochter Auguste und Schelling nach Berlin zu locken, und mit ihnen und Tieck zusammenzuziehen. Dieser Plan scheiterte jedoch.
Nicht Berlin, sondern Jena wurde letzten Endes zum Zentrum der Frühromantik und es waren eben die Berliner, die nach Jena übersiedelten, „ebenso Tieck mit seiner Familie, und Novalis kam von Weißenfels oft herüber. Das Haus war von Caroline Michaelis-Schlegel mit viel Geschmack eingerichtet worden“ (Meding 1981: 95). Novalis sagte über dieses Jena: „magische Atmosphäre, eine Geisterfamilie mitten unter Moosmenschen“ (Zit. nach: Meding 1981: 104).
In der Tat erzielten die Romantiker mit dieser Gemeinschaft mehr als bloße Befriedigung des Bedürfnisses nach menschlicher Gesellschaft. Sie bedeutete mehr als gemeinsames Lernen, Vorlesen, Diskutieren; mehr als gemeinsame, lustvolle Ausflüge und Treffen, frühmorgendliche Picknicke, Kutschfahrten und regelmäßige Besuche der Gemäldegalerie in Dresden. Diese Gemeinschaft ermöglichte ihnen eine „geistige Kooperation, sowie wache und liebevolle Aufmerksamkeit füreinander, für das Geheimnis und die Wahrheit im Anderen (Meding 1981: 79). Gerade wegen des krassen Individualismus gibt e in der Frühromantik das Ziel der Überwindung der Schranken der Persönlichkeit. Es entsteht die Theorie, daβ die ‚Künstlergemeinschaft‘, ebenso wie die Freundschaft und die Liebe selbst neue Synthesen schaffe, selbst produktiv sei“ (Meding 1981: 89). Diese Produktivität bezieht sich u.a. auf das „Symphilosophieren“ – auf das gemeinsame Erarbeiten, auf den Vorgang, „sich einem Gegenstand von den verschiedensten subjektiven Interessen aus zu nähern“ (Meding 1981: 94). Die Künstler schienen den aufeinander geübten Einfluss zu genießen. Gerne lieβen sie zu, etwas auf sich zu übertragen, sich ineinander zu vertiefen. Doch zugleich sagt Schlegel: „Das Bewuβtsein der notwendigen Grenzen ist das Unentbehrlichste und das Seltenste in der Freundschaft“ (Zit. nach: Meding 1981: 90). Daraus ergibt sich das Bemühen, „heftige und kontinuierliche Kontroverse über zentrale Auffassungen“ zu pflegen (Meding 1981: 93). Gebundenheit, Gemeinschaft, soll nicht in Gleichschaltung ausarten.
Die Gruppe löste sich nach der Jahrhundertwende. Vieles trug dazu bei. Im Jahre 1800 war das „Athenäum“ nicht mehr lebensfähig, 1801 erschütterte die Freunde der frühe Tod von Novalis. Friedrich Schlegels Hoffnungen auf eine Professur in Jena erwiesen sich als vergeblich. Dazu kam es zu manch persönlichen Zwietracht. „Aber entscheidend waren sicherlich die Krisenmomente, die durch die geschichtliche Entwicklung ausgelöst worden waren“ (Böttcher et al. 1973: 89).

2.3  Romantische Subjektivität der Naturwahrnehmung

Die Naturvorstellungen sind ein wichtiger Bestandteil des Romantischen. Schon die Betrachtung der Gemälde, welche die Epoche erzeugte, weist, im Vergleich zu bisherigen Epochen, eine gewisse Veränderung auf, und zwar nicht nur in der Darstellungsweise, aber auch, wenn es um die Wahl des Gegenstandes, der Landschaft, geht.
Typisch für eine romantische Landschaft sind geheimnisvolle Vollmondnächte und Dämmerungen, majestätische Berglandschaften, inmitten einer verwüsteten, öden Gegend spuckende Burg- oder Kapellenruinen, Friedhöfe, auf eine schauererregende Weise Kälte ausstrahlende Winter- und Herbstlandschaften, Waldlichtungen und Wildnisse oder uferlose Meere. Kurz gesagt, es wurde alles gemalt, was die Seele mit Sehnsucht erfüllen konnte. Oder umgekehrt – das war auch ein Ausdruck der, die Seele des Künstlers bewohnenden Sehnsucht.
  
Caspar David Friedrich „Friedhofseingang“ und „Abtei im Eichwald“

Der bedeutendste Name für die bildende Kunst aus der Zeit der Romantik ist der von Caspar David Friedrich. An seinen Werken sind die wichtigsten Merkmale der romantischen Naturvorstellungen erkennbar und überschaubar, deswegen wird auch sein Name für die Zwecke dieser Arbeit, die sich grundsätzlich auf die von der Literatur getragenen Inhalte konzentriert, angeführt. Diese Überschaubarkeit der wichtigsten Merkmale leitet vortrefflich in die viel mühsamer zu entziffernden Textstellen der romantischen Literatur ein, welche der Natur gewidmet worden sind. Man nehme als das zu untersuchende Beispiel das 1818 entstandene Ölgemälde „Kreidefelsen auf Rügen“.


Caspar David Friedrich „Kreidefelsen auf Rügen“

Das, was typisch für die Gemälde von Caspar David Friedrich war, ist die Rückenansicht der Personen, die in eine wilde Naturlandschaft hineinschauen. Manchmal sind die Landschaften schaurig, gespenstisch, kaum für einen Menschen erreichbar, manchmal sind sie saftig grün, jungfräulich und mild, doch nie scheint sie die Menschenhand gestaltet, gekünstelt zu haben. Auch wenn auf diesem oder jenem Gemälde ein Gebäude zu sehen ist, ist das am häufigsten eine verfallene Ruine, Überreste einer gotischen Abtei oder ein vom Schnee bedeckter Friedhof, was eigentlich auf die (von den Romantikern verherrlichte) Zeit des Mittelalters hinweist, wo die Menschen enger mit der Natur verbunden waren. Auf dem Ölgemälde „Kreidefelsen auf Rügen“ sind drei Personen zu erkennen, alle in der Rückenansicht. So sollen wir uns nicht auf die Menschen konzentrieren, sondern darauf, wohin sie hinblicken, wir sollen in die dargestellte Landschaft hineinversetzt werden, um sie subjektiv zu erleben. Wir sollen die unendliche Ferne auf uns wirken lassen, den Geruch des Meeres, das Rauschen der Wellen, die salzige, erquickliche Briese samt aller Wehmut, die das Unendliche doch weckt, in unserem Gemüt schließen, in unserer eigenen Seele walten lassen. Die Aufgabe oder Vorrecht des Künstlers bestehe darin, „in dem Beschauer Gedanken, Gefühle, Empfindungen zu erwecken“ (Zit. nach: Charpentier et al. 1993: 24), so der Maler selbst. Weitere Frage, die man sich, die Werke Friedrichs anschauend, stellen muss, lautet: Wäre das nur eine bloße Darstellung einer Landschaft, was man vor die Augen bekommt? Die Antwort erteilt der Künstler selbst: „Der Maler soll nicht bloß malen, was er vor sich sieht, sondern auch, was er in sich sieht“ (Charpentier et al. 1993: 24). Die dargestellte Natur spricht also im Namen des Künstlers über seine Gefühle, über seine Sehnsüchte. Als der lebende und der sprechende, der fühlende und der mitfühlende Organismus, zu welchem die Natur eben in der Romantik erklärt wurde (Vgl. Janion 1972: 252), ist sie dazu voll berechtigt.
Der romantischen Literatur ging es ebenso sehnsüchtig wie der bildenden Kunst. Es existiert ein Begriff „Sehnsuchtslandschaften“. Der Begriff lässt sich folgendermaßen erklären: es ging nicht darum, „die Natur an sich“ darzustellen, sie war vielmehr „Anlaß für die Entrückung. ... Die Natursituation wird zu einer psychischen Erfahrung für das Ich. Die Requisiten dieser Landschaft sind nur Träger einer Stimmung“ (Schmitt 1993, 2: 24). Es bestand auch eine andere Möglichkeit, sich dieser „Requisiten“ zu bedienen. Sie konnten nämlich als eine „Chiffre für eine Seelenlage“ (Schmitt 1993, 2: 23) benutzt werden. Eine umgekehrte Situation also, wo ein Meer beispielsweise, eine schneeumwehte Straße oder das Sausen des Windes eine Illustration innerer Stimmung des Ich sein konnten.
Deutlich ist es in den beiden Fällen schon genug, dass das wichtigste Merkmal der Romantik, die Subjektivität, auch in den Naturvorstellungen zum Vorschein kam. Dies äußerte sich auch in der Ansicht, dass es zwischen einem Menschenwesen und seiner Umgebung zu gewissen Interaktionen kommt – einerseits beeinflusst die Gesinnung des Menschen seine Wahrnehmung der Natur (zum Beispiel, wenn er fröhlich gesinnt ist, zeigt sich ihm alles schöner), oder die Natur kann einen Einfluss auf das menschliche Gemüt ausüben. „Die Natur ... ist für unser Gemüt, was ein Körper für das Licht ist. Er hält es zurück, er bricht es in eigentümliche Farben, er zündet auf seiner Oberfläche oder in seinem Innern ein Licht an, das, wenn es seiner Dunkelheit gleich kommt, ihn klar und durchsichtig macht, wenn es sie überwiegt, von ihm ausgeht, um andere Körper zu erleuchtern“ (Novalis 1902: 153[1802]), so Novalis.
Man behauptete, einem Künstler steht es, die Natur ganz subjektiv, so, wie er sie unter konkreten Umständen wahrnimmt, in seinen Werken wiederzugeben. Dies erst galt als eine treue Wiedergabe, weil, den Ansichten nach, war der Mensch und die Natur ein unzertrennliches Eins (Vgl. Schellings Identitätsphilosophie), demnach nur solche subjektive Darstellung richtig war.
Ein weiteres Umfeld der romantischen Naturvorstellungen war die Suche, oder eben die Sehnsucht, nach der verlorengegangenen Harmonie zwischen Menschenwesen und (vergeistigte) Natur. In seinem Fragment „Die Lehrlinge zu Sais“ nannte Novalis diese vergangene Zeit „das goldene Zeitalter“ und die, ihm gegenwärtige Menschheit bezeichnete er als „entartete und verwilderte Reste“ des verlorengegangenen „Urvolkes“. Dieses „Urvolk“ wusste es noch, im Einklang mit der Natur zu leben, selbst „ihre Aussprache war ein wunderbarer Gesang, dessen unwiderstehliche Töne tief in das Innere jeder Natur eindrangen und sie zerlegten“ (Novalis o. J.: 50 [1802]). Nun war man damit beschäftigt, einen Weg nach einem neuen „goldenen Zeitalter“ zu finden. Das ganze schon erwähnte Fragment von Novalis stellt die bedeutungsvolle „Frage nach dem Zusammenhang von Naturerkenntnis und Selbsterkenntnis“ (Schmitt 1993, 2: 53). Vielleicht nicht die Antwort, doch eine Anweisung gibt der Autor schon, und das passiert, merkwürdigerweise, nicht unter naturwissenschaftlichen Erörterungen, aus denen das Werk fast ausschließlich besteht, sondern in einem eingesetzten Kunstmärchen unter dem Titel „Hyacinth und Rosenblüte“. Aus diesem Märchen ergibt sich folgende Schlussfolgerung: Höhere Selbsterkenntnis ist vollkommene Naturerkenntnis. Solche Erkenntnis wäre jedoch eine Wunschvorstellung, wenn man bedenkt, dass die Romantiker eine gewisse Antinomie zwischen Natur und Kultur feststellten (Janion 1972: 245). Deswegen wurde die Rousseausche Idee der Rückkehr zur Natur nicht mehr im regressiven Sinne verstanden. Erst Schiller, dann seine romantischen Nachfolger sahen die Kluft, die sich zwischen dem modernen Kulturmenschen und der Natur schlägt, deutlich genug, um, statt nach einem Rückweg, nach einem neuen Weg zur Natur zu suchen (Janion 1972: 261-262). Diesen neuen Weg fand der geistige Vorläufer der Romantiker Schiller in der Kunst und in der ästhetischen Erziehung des Menschen. Schiller glaubte, dass das, was die Kultur, was die Kunst selbst vernichtet hatte, muss die Kunst wiedergutmachen. Die Kunst soll uns die mystische Union mit der Natur wieder erlebbar machen. Diesen Gedanken setzten dann die Romantiker fort – laut Novalis, „am hellsten ist in Gedichten der Naturgeist erschienen“ (Novalis o. J.: 29).
Als ein weiteres Merkmal der romantischen Naturvorstellungen soll der Kulturpluralismus genannt werden – die zum ersten Mal durchaus positive Bewertung des Regionalen (Janion 1972: 280-281). Dieses regionale Gefühl führe letzten Endes zu einer regionalen Einteilung der Kultur – Madame de Staël, die wohlbekannte Autorin der kritisch-literarischen Texte zur Zeit der Romantik führte die Begriffe von der Poesie des Südens und der des Nordens ein. Die Werke der Engländer, Deutschen, Dänen und Schweden zählte sie zur Literatur des Nordens (Janion 1972: 285). Dieser schrieb die Madame de Staël solche Eigenschaften zu, wie die Neigung zur Philosophie und Melancholie, Drang zur Unabhängigkeit, Leidenschaft, sowie die Gedanken über Tod und Sterben und über Gespenster. Die Autorin war davon überzeugt, dass die Landschaft im engen Zusammenhang mit dem seelischen Zustand des Menschen stehe (Janion 1972: 285-286). In der nördlichen Landschaft, mit der man gleich eher dunkle und nasse Wälder, windige Heiden, uferlose Meere und kahle, kalte Berge assoziiert, kommt die südliche Heiterkeit bestimmt nicht zustande. Für die Völker des Nordens sei es charakteristisch, dass ihnen die Freuden des Lebens weniger als Schmerzen bedeuten, woraus sich auch ergeben soll, dass ihre Einbildungskraft fruchtbarer sei. Die düstere und finstere Natur, von der sie umgeben sind, soll sich auf ihre Gemüter stark auswirken. Die Menschen im Norden seien demnach mit Unruhe und Spannung erfüllt, innerlich gespaltet, aber auch, ihrer Umgebung gleich, stolz, unabhängig und frei (Janion 1972: 287). Man soll das beachten, dass es die Poesie des Nordens war, was den Idealen der Romantiker entsprach, soweit es um die Naturvorstellungen ging. „Die Poesie des Nordens war eben die natura naturans [die werdende Natur, so wie sie in der Tat ist – J.K.], während die des Südens die natura naturata [gegebene, „fertige“ Natur – J.K.]“ (Janion 1972: 289).
In zahlreichen Volksliedersammlungen und Märchen der deutschen Romantik zeigt sich die Natur dem Leser zauberhaft und kraftvoll, magisch, mystisch, lebendig, klug und vor allem schön. Sie kann dem Menschen gegenüber entweder gut gesinnt sein oder etwas Dämonisches, Verführerisches an sich haben.

2.4  Romantisches Individuum und die Liebe

Die Liebe existierte in der Literatur seit immer und es wird sie immer in der Literatur geben. Die Frage, die jetzt gestellt werden muss, lautet: Was unterscheidet die romantische Liebe von der Liebe allgemein?
Um die Antwort darauf zu finden, muss man auf die wichtigsten Merkmale der Romantik zurückkommen und diese dann in den Bereich von Liebe übertragen. So wie sich zum Beispiel im 19. Jh. die Einstellung der Menschen der Natur gegenüber änderte – wie man ihre Fülle und Schönheit entdeckte – das spiegelte sich auch im Bevorzugen einer wilden, lebenden Naturumgebung, am besten mit einer alten, mit Kletterpflanzen verwachsenen Burg, als den perfekten Hintergrund für das Beisammensein der Liebenden wider. Auch der Hang der Romantiker zum Wunderbaren kam in den Vorstellungen von Liebe zum Ausdruck.
Wir hatten uns schon gesagt, dass die Subjektivität eins der bedeutendsten Kennzeichen der Romantik war. In den Bereich der Liebesvorstellungen übertragen, wurde sie auch zu einem der wichtigsten Kennzeichen der romantischen Liebe. Wie man die Welt, die Umgebung, die Natur und die Mitmenschen subjektiv wahrnimmt, mit den Augen des eigenen Ich betrachtet, und nicht zuletzt das Gesamtbild durch diese subjektiven Wahrnehmungen verändert, so muss das gleiche auch in Bezug auf die Geliebte, bzw. den Geliebten geschehen.  Es „gilt … zu beachten, dass, obwohl man den anderen liebt und Liebe die Verbindung zwischen zwei Menschen bezeichnet, Liebe nicht im geliebten Objekt ankert, sondern im liebenden Subjekt“ (Augart 2005: 65), bemerkte die gegenwärtige Forscherin Julia Augart, die den Briefwechsel von einem der bekanntesten Paare der Romantik, Sophie Mereau und Clemens Brentano, analysierte. Auch der Zeitgenosse von Brentano, Novalis, stellte in seinem Tagebuch Ähnliches fest. Aus der Analyse der Bemerkungen des Dichters, die von Rüdiger Safranski, wieder einem gegenwärtigem Literaturforscher, durchgeführt wurde, ergibt sich die Schlüsselbedeutung der Einbildungskraft in der romantischen Liebesbeziehung. Die Einbildungskraft, die der Dichter selbst „produktive Imagination“ nannte, soll eine neue Wirklichkeit und zwar im doppelten Sinne aufbauen, interpretiert Novalis` Worte Safranski. „Denn erstens beschwingt und steigert die Einbildungskraft sein Lebensgefühl. … Zweitens aber wirkt die Einbildungskraft nach außen wie ein Magnet. Sie zieht aus der anderen Person etwas hervor, das wirklich in ihr steckt. Durch die Einbildungskraft verwandelt und steigert man sich selbst und den anderen. ... In der romantischen Liebe zu Sophie [Sophie von Kühn, die früh verstorbene Braut des Dichters – J.K.] gelingt Novalis diese doppelte ‚qualitative Potenzierung‘, er potenziert sich selbst und die Geliebte“ (Safranski 2007: 115).
Weitere Merkmale der romantischen Liebe sind das Aufheben des „Dualismus von geistigem Gefühl und sinnlicher Begierde“ (Augart 2005: 64) und eine „gewisse Exklusivität, in der alle anderen ausgeschlossen werden und sich die Liebenden selbst genug sind (Augart 2005: 63).
Nicht zu unterschätzen ist auch die Leidenschaft in den Liebesbeziehungen, der man in der romantischen Literatur überall fündig wird. Die Leidenschaft ist in den Texten der Romantik als eine kräftige und hinreißende Macht dargestellt, aber auch dem Namen gemäß – Leidenschaft heißt sie doch – taucht sie oft als ein vernichtendes, zerschmetterndes Gefühl, eine Qual, auf. Nicht selten wurde die Leidenschaft auch als eine Kombination der beiden – glücklichen und unseligen Empfindungen betrachtet.
Die spießbürgerliche Moral abgelehnt, erhoben die Romantiker das Prinzip, dem eigenen Herzen zu folgen, zum Rang des höchsten moralischen Rechts. Dies berechtigte sie zum Widerstand gegen jegliche Konventionen und Anstände und erwies sich vor allem, wenn es um die Liebe geht, als bahnbrechend (Straszewska 1969: 123). Die gesellschaftliche Akzeptanz einer Beziehung zählte nicht mehr, denn das Wichtigste sollte eben die Liebe sein, die Übereinstimmung der Gemüter, der Bund zweier Herzen. Damit ist der Versuch der Romantiker, die freie Liebe durchzusetzen, zu erklären – „die Prosa des Lebens, das bürgerliche Ideal des familiären Glücks, werden sie als tödlich für die Poesie der Liebe beurteilen“ (Straszewska 1969: 123).
Eine wichtige Nebenwirkung dieser Anschauungen war einer der ersten Schritte von Frauenemanzipation, der damals gemacht worden war. Es wurde Widerstand gegen versklavende gesellschaftliche Anstände, die die Frau fesselten, geleistet. So wurde die Frau zum ersten Mal in so großem Maße zum Freund des Mannes (Straszewska 1969: 125). Das trug zusätzlich zur Entstehung einer neuen Form von Partnerschaft bei – zwei Individuen, zwei Liebende, die sonst von niemandem verstanden zu sein glaubten, oder der Gesellschaft müde waren, grenzten sich von dieser ab, um ihre Zweisamkeit zu genießen.

2.5  Exzentrisch und individuell

Die Vorliebe für alles Individuelle beeinflusste nicht nur die innere Welt der Romantiker – in vielen Fällen wirkte sie von innen nach außen hin, das Verhalten oder sogar das Aussehen mitbestimmend. Das konnte den Menschen der Epoche natürlich nicht entgehen. Das Interesse galt vorzüglich Denjenigen, die sich über das Gewöhnliche erhoben. Je künstlerischer war die Ausstrahlung des Künstlers, je krankhafter der Zustand des Wahnsinnigen, je einzelgängerisch der Einzelgänger – desto größer war das Interesse an ihm. Damit lässt sich auch erklären, warum das Äußere und das Betragen der Künstler damals so sehr Aufmerksamkeit der Menschen erregte. So zum Beispiel wurden Diejenigen, die den jungen Novalis persönlich kannten, von seiner Ausstrahlung hypnotisiert, verzaubert. Friedrich Schlegel beschrieb Novalis` Augen – „die Augen eines Geistersehers, die farblos geradeaus leuchten“ (Zit. nach: Safranski 2007: 110).  Auch die dämonische Erscheinung vom virtuosen Geigenspieler Nicolò Paganini verursachte, dass der Musiker zu einer lebenden Legende wurde (Straszewska 1969: 198). „Zeitung für die elegante Welt“ aus dem Jahre 1829 hegte gegen den Virtuosen einen äußerst merkwürdigen Verdacht: „Jedermann errät es jetzt, und hätte es längst merken können, dass Paganini und der Satan in der engsten Beziehung stehen, wenn einer nicht sogar mit dem andern identisch ist.“ [11] Diese Worte konnten dem Musiker im Großen und Ganzen nur schmeicheln. Die Menschen der Epoche strebten danach, unvergleichbar zu sein. Wenn man sich das angestrebte Menschenbild genau ansehen würde, so fände man die Romantiker originell, rebellisch und extravagant. Dies äußerte sich in ihrem unbefangenen Lebensstil, im Verstoß gegen die bürgerlichen Anstände und gegen die gesellschaftliche Etikette. Viele trugen langes Haar, viele narkotisierten sich mit Tabak (Straszewska 1969: 120); die Künstler und die Empfänger ihrer Erzeugnisse genossen allerlei kontroverse Themen (Straszewska 1969: 57).
 
Legendäre romantische Persönlichkeiten: Novalis und N. Paganini

Das alles hatte natürlich weitgehende Konsequenzen für das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft. Das Originelle rebellierte gegen all dem, was seine Originalität hindern und beschränken könnte; das Originelle wollte sich frei entwickeln (Straszewska 1969: 59).
„Das Verhalten der Gruppe [der Jenaer Gruppe – J.K.] nach außen – als abstrakte Gegenübersetzung entsprach letztlich jenem Miβtrauen, das man ihnen gegenüber zeigte. Sie gebärdeten sich defensiv arrogant und manchmal subtil bösartig“ (Meding 1981: 106).
In romantischen Werken kommen wir auf zahlreiche Beispiele einer bewussten Abgrenzung der Helden von der Gesellschaft. Die gesuchte Selbsterkenntnis, das In-sich-Schauen war am besten in der Einsamkeit (nicht Vereinsamung!), auf dem Schoße der Natur, zu vollführen. „Waldeinsamkeit, / die mich erfreut, / so morgen wie heut / in ew`ger Zeit, / O wie mich freut / Waldeinsamkeit“ (Schmitt 1993, 2: 39) – wird es in einer Erzählung von Ludwig Tieck gesungen und es könnte wohl als Hymne der deutschen Romantik gelten, eine Hymne des romantischen Individuums, das sich so gerne, von wilder Natur umgeben und vielleicht unter seinen Seelenbrüdern, von der Gesellschaft fern hielt.

3.   Mystizismus ohne Weltentrückung:

zur Novalis` Biographie



Georg Philipp Friedrich Freiherr von Hardenberg wurde am 2. Mai 1772 auf dem Gut Oberwiederstedt geboren. Als er starb, was am 25. März 1801 in Weißenfels geschah, war er noch nicht voll 29 Jahre alt. Diejenigen, die sich von seinem gerade aufblühenden literarischen Talent viel versprochen hatten, erschütterte dieser Verlust aufs Tiefste.[12] Viele seine Werke blieben nämlich unvollendet; viele Ideen, die philosophischen und schriftstellerischen Vorhaben, von welchen der Dichter seinen Freunden erzählt hatte, gesellten sich ihm auf ewig in der stillen Gruft. Trotzdem zählt der Jungverstorbene zu den wichtigsten Theoretikern und Dichtern seiner Epoche und das Wenige, was er nachgelassen hat, erwies sich im großen Maße richtungsbildend für die deutsche Frühromantik; die Individualität des Novalis selbst als prägender Impulsgeber (Böttcher et al. 1973: 138).
Wie stark diese Wirkung auf die Um- und Nachwelt war, veranschaulicht uns vielleicht die Tatsache, dass noch 30 Jahre nach dem Tod des Dichters, während einer Predigt, der große Theologe Friedrich Schleiermacher eine Strophe von Novalis zitierte.[13] Und er sollte es unter strömenden Tränen und mit bebender Stimme getan haben, berichtet Sophie von Hardenberg, die Tochter des jüngsten Bruders von Novalis in der von ihr verfassten Biographie des Dichters (Hardenberg 2010: 280-281 [1873]). 111 Jahre nach Novalis‘ Tod wiederum, erklärte ihn Rudolf Steiner während einer Matinee am Tag nach der Begründung der Anthroposophischen Gesellschaft[14] als den Wegbereiter und Vorläufer der Geisteswissenschaft: „Wenn wir in solcher Art die Herzensklänge hören unseres lieben Novalis, durch die er so innig zu künden wusste von der Sendung des Christus, fühlen wir etwas von Rechtfertigung für unsere Geistesströmung“ (Zit. nach.: Prokofieff 1987: 168). An einer anderen Stelle drückt sich Steiner noch entschiedener aus: Novalis „war einer der Propheten“ (Zit. nach.: Prokofieff 1987: 169). Es erhebt sich die Frage, was war das Besondere an diesem frühverstorbenen Menschen, so dass sein kurzes Leben und sein knappes Werk die Anderen so stark bewegen konnte. 
Von entscheidender Bedeutung für sein ganzes Leben sollten die Verhältnisse in seinem Elternhause sein, wo ihn einerseits viel Wärme und Liebe der Mutter, Auguste Bernhardine, geborene Bölzig, umgab, andererseits jedoch musste er die ständige Unzufriedenheit seines Vaters, Erasmus von Hardenberg,  ertragen. Der Grund für diese Unzufriedenheit lag darin, dass Friedrich dem Vater zu weltlich erschien, während für den letzteren der Glaube an Christus am wichtigsten war (Hardenberg 2010: 52). Im Grunde genommen irrte der Vater: ähnlich wie ihm bedeutete Christus seinem Sohn Alles, auch wenn er einen völlig anderen Weg zu ihm ging (Hardenberg 2010: 290). Der Vater, dem nach einer fünfjährigen, glücklichen Ehe seine geliebte erste Frau gestorben war, und der diesen Verlust als Strafe von Oben interpretiert hatte, wollte seine Kinder aus der zweiten Ehe in der pietistischen Sittenstrenge und einer asketischen Abgrenzung von Menschen erziehen (Hardenberg 2010: 35-39). Friedrich jedoch brauchte mehr Freiheit, die zu derjenigen hätte passen können, die ihm angeboren war. Religiöse Fragen blieben Tabu sogar am Friedrichs Sterbebett . Es musste für Erasmus ein Schock gewesen sein, als er, in der Herrnhuter Gemeinde – kurz nach Friedrichs Tod – gerührt ein Lied mitgesungen und beim Hinausgehen aus der Kirche nach dessen Autor gefragt hatte; als er damals erfuhr, dass sein eigener Sohn es geschrieben hatte (Hardenberg 2010: 290)…
Sophie von Hardenberg betont, wie ähnlich – wenn man die religiöse Spannung beiseitelegt – der Sohn seinem Vater war  und führt Friedrichs eigene Worte über seinen Vater an, die zugleich seine eigene Charakteristik sind: [der Vater] „brachte uns durch Beispiele und Reden eine Verachtung des äußeren Glanzes bei. Er ermahnte uns zum Fleiß, zur Genügsamkeit, und äußerte seine Freude, wenn wir unseren Herzen folgten, ohne Rücksicht auf die Meinung der Welt zu nehmen. Er pries uns das Glück einer stillen, häuslichen Lage und bat uns oft, nie aus Rücksichten des Interesses und der Ambitionen zu handeln und zu wählen“ (Zit. nach: Hardenberg 2010: 258).
Es zeigte sich sehr früh, dass die Gründung einer eigenen Familie zu dem größten Wunsch des Dichters wurde; das familiäre Glück zum Hauptziel. Schon als 21 Jahre junger Mann schreibt er in einem Brief an seine Mutter: „O ich fühle sie ganz, die Süßigkeit des Berufs, Stütze einer Familie zu sein“ (Zit. nach: Hardenberg 2010:  77). Um dieses Ziel realisieren zu können, musste er sich eine sichere Lebenslage erschaffen. Zunächst, nach Ablegung des juristischen Staatsexamens in Wittenberg (14. Juni 1794), arbeitete er als Aktuarius beim Tennstedter Kreisamt, dann als Akzessist bei der kursächsischen Salinenverwaltung in Weißenfels, wo er nach den Studien an der Bergakademie in Freiberg zum Salinenassessor avancierte. Kurz vor dem Tod wurde er zum Amtshauptmann im Thüringischen Kreis ernannt. In jeder Arbeit fand er sich mit großer Leichtigkeit zurecht und wurde als tüchtiger und pflichttreuer Beamter gepriesen (Dohmke 1902: 4).
Seine Dichterträume bildeten nie eine Opposition zu seinem praktischen Verstand, denn Novalis war ein Mensch, in dem alle Gegensetze aufgehoben, oder – an seine eigene Terminologie anknüpfend – „versöhnt“ waren. „Die Wissenschaften müssen alle poetisirt werden“, schreibt er in einem Brief an Friedrich Schlegel (Hardenberg 2010: 196). Im vorigen Kapitel war schon über Novalis‘ Überzeugung die Rede, dass „sich auch ‚Geschäftsarbeiten‘ poetisch behandeln lassen“  (Safranski 2007: 59). Friedrich Hardenberg als Dichter litt nicht an der Prosa des Alltags eines Beamten, weil er sich diese Prosa zu „poetsiren“ wusste. Und obwohl Philosophie sein Lieblingsstudium war[15], machte er sich – besonders während der Studienzeit in Freiberg – mit dem Erkenntnisstand von Mineralogie, Geologie, Chemie, Physik und Medizin vertraut, er interessierte sich auch für Meteorologie und studierte die Fabrikation des Sonnensalzes (Lutz, Jeβing 2004: 585).
Man muss sich vom Denken in den Kategorien der Gegensetze befreien, um Novalis richtig verstehen zu können. Man bedenke nur, dass derselbe Mensch, der über die Erfindung und den verbreiteten Einsatz von mechanischen Uhren als über eine Pest schreibt, weil sie unseren natürlichen Lebensrhythmus zerstört hätten, derselbe Mensch widmet sich – um nur einige Beispiele zu nennen – der Arbeit an Apparaten zur Wolkenerzeugung; er propagierte Doppelfenster; man verdankt ihm auch gedankliche Vorwegnahme von Prinzipien der Photographie (Hardenberg 2010: 20). Man mache sich weiter bewusst, der Protestant Novalis äußerte sich sehr negativ über die Spaltung des Christentums, über protestantische Bewegung also, und vertiefte sich in Jakob Böhmes Werke! Als gläubiger Christ sprach er von der Notwendigkeit des Erarbeitens eines neuen Evangeliums und nannte eine absolute religiöse Freiheit als die Rahmenbedingung für das künftige Christentum (Prokofieff 1987: 114).
Novalis kannte keine Widersprüche, er war von ihnen völlig frei. Rousseau und die Sturm-und-Drang-Periode, die zum Rückkehr zur Natur gerufen hatten, vertieften sich noch in peinlichste Not, auf jedem Schritt von Gegensetzen geplagt, denn damals ging es um eine Rückkehr im regressiven Sinne, was, wie Schiller wenig später bemerkt hatte, nichts als eine utopische Vorstellung, ein unmöglicher Traum war. Novalis dagegen denkt zukunftsorientiert. Als Dichter, Mystiker und Wissenschaftler glaubt er an „Verbundensein aller Dinge“ (Hardenberg 2010: 28) und daran, dass es zwischen dem Physischen und Metaphysischen keine Grenze gäbe (Hardenberg 2010: 27); er ist davon überzeugt, dass die Menschheit, die einmal ihren Geist auf den Verstand gewechselt hatte, nach einem neuen goldenen Zeitalter streben sollte, in dem sich der Verstand mit dem Geist versöhnt und ein Jeder ein bewusstes und zugleich geistiges Leben führen wird – ein volles Leben. Das, während der Zeit in Freiberg gewählte Pseudonym „Novalis“ (lateinisch „neues, brachliegendes Land“) bezieht sich auf dieses philosophisch-kulturelle Erneuerungsprogramm (Lutz, Jeβing 2004: 558).
Die Philosophie des Novalis ist in vielerlei Hinsicht einmalig. Erstens wohnt sie seinen literarischen Werken inne: wir begegnen ihr in seinen Gedichten, Fragmenten, Briefen, Märchen und in dem einzigen, unvollendeten Roman; Novalis verzichtet auch auf die schwer zu entziffernden Begriffe und Definitionen und wählt – sogar für Auseinandersetzungen mit Fichte oder Kant – entweder die Alltagssprache oder die gehobene, schön stilisierte Sprache der Literatur. Das Besondere besteht jedoch vor allem darin, dass der Dichter seine Philosophie unmittelbar aus seinem Leben zieht. Man könnte ihn mit einem Aufgeklärteren vergleichen, dem sich der Sinn des Lebens und Weltalls von selber offenbart hatte und der sich dann nur darum bemühte, das wirklich Erlebte zu beschreiben. Tatsächlich gab es im Novalis‘ Leben Momente, wo etwas in der Art von Offenbarung, Verklärung, möglich gewesen sein konnte.
Zunächst schien der kleine Friedrich von Hardenberg nicht besonders begabt zu sein. Er war ein kränkelndes Kind, das nicht lernen konnte und wollte – in diesem Punkt blieb er weit hinter seinen Geschwistern stehen (Hardenberg 2010: 48). Als er neun Jahre alt geworden war, erkrankte er an der Ruhr. Mehrere Monate blieb er ans Bett gefesselt. Als er aber wieder gesund wurde, war er schon (ganz unerwartet) ein physisch und geistig völlig verändertes Kind. Er fing zu lernen an und bald überholte er darin seine Schwester Caroline und den Bruder Erasmus (Hardenberg 2010: 48).
Am 17. November 1794 begegnet er zum ersten Mal Sophie von Kühn (die damals ein erst 12-jähriges Mädchen war). Im Frühling des darauffolgenden Jahres wird die Verlobung abgesprochen (Hardenberg 2010: 138). Friedrich war in sie über Alles verliebt. Viele wunderten sich darüber, denn Sophie war doch noch ein Kind, ein Kind von zarter Gesundheit dazu, das in mancher Hinsicht in der äußeren Entwicklung sogar zurückgeblieben war, geschweige denn an Novalis‘ geistigen und intellektuellen Interessen teilzunehmen (Prokofieff 1987: 204). Dem Dichter selbst blieb diese Neigung für das junge, kränkelnde Mädchen ein Rätsel (Prokofieff 1987: 205); einmal notierte er in seinem Tagebuch: „Ich habe zu Söphen Religion, nicht Liebe“ (Zit. nach: Prokofieff 1987: 206). Sergej Prokofieff, der in seinem Buch Rudolf Steiners Vorträge über Novalis anführte und kommentierte, versuchte auf anthroposophische Weise dieses Rätsel zu lösen und kam zu folgenden Schlussfolgerungen: „Sie war [infolge ihrer Kränklichkeit und ungenügender Individualisierung, d.h. durch eine gewisse Zurückgebliebenheit in der Entwicklung des eigenen Astralleibs – J.K.] für ihn eine Art Tor in die höhere Welt, ein Anlaβ, der seinen inneren Blick auf die jenseitige Sphäre lenkte. … sie scheint ihm zuermöglichen … in die geistige Welt zu schauen“ (Prokofieff 1987: 207). Mit anderen Worten: Durch ein zartes Mädchen namens Sophie gelingt Novalis zur göttlichen Sophia.
Am 19. März 1797 im Alter von fünfzehn Jahren, nach langwieriger, schmerzvoller Leberkrankheit stirbt die geliebte Braut. Novalis ist so erschüttert, dass er zunächst den Entschluss fasst, ihr nachzusterben (Hardenberg 2010: 161). Er verbringt viel Zeit an ihrem Grab. Gerade eben dort wird er aber zum Mystiker und einem verklärten Dichter. „Hymnen an die Nacht“ die damals entstanden sind, können als Dokumente betrachtet werden, welche die geistige Verwandlung von Novalis bezeugen; sie beschreiben ein gewisses Hinaufsteigen auf eine höhere Stufe: Einsamkeit und Furcht werden durch geistige Kraft besiegt und dann kommt es zur Befreiung von den Fesseln des physischen Leibes (Prokofieff 1987: 47).
Novalis besiegt die Todessehnsucht und wendet sich erneut dem Leben zu. Er widmet sich der Philosophie und dem Schreiben, arbeitet und plant seine Zukunft, verlobt sich zum zweiten Mal (mit Julie von Charpentier), strebt mit verdoppelter Kraft nach seinem alten Ziel, dem häuslichen Glück (Hardenberg 2010: 77, 241).
Eigene Krankheit und plötzlicher Tod des jüngeren Bruders machen aber dem Streben ein frühzeitiges Ende. Die Nachricht über den Tod des 14-jährigen Knaben verursachte einen heftigen Blutsturz (Hardenberg 2010: 285). Von dem Zeitpunkt an gab es keine Hoffnungen für eine Genesung. Nur der Dichter selbst schien noch daran zu glauben (Hardenberg 2010: 288). Man hat ihn ins Vaterhaus zurückgebracht (Hardenberg 2010: 288). Im Frühjahr 1801 verbesserte sich sein Zustand ein wenig. Er widmete sich geschichtlichen Studien, las viel in der Bibel und erzählte seinen Freuden von seinen schriftstellerischen Vorhaben (Hardenberg 2010: 289). Am 24. März soll er Friedrich Schlegel gesagt haben: „Vieles habe ich erst jetzt im rechten Lichte gesehen, und wenn ich wieder gesund bin, dann will ich recht erst schaffen!“ (Zit. nach: Hardenberg 2010: 289). Auch am darauffolgenden Tag war Friedrich Schlegel am Bett seines Freundes anwesend (Hardenberg 2010: 289). Da bat Novalis seinen Bruder Karl, ihm auf dem Klavier vorzuspielen. Bei diesen ihm lieben Klängen, in der Anwesenheit des Freundes und des Bruders, einschlummerte der Dichter sanft und still und ohne Schmerzen (Hardenberg 2010: 289). Auf ewig schlossen sich seine Augen, „die Augen eines Geistersehers“[16].

Novalis lebte nicht in der Hoffnung, dass er erst einmal – im Jenseits – eine blaue Blume finden wird. Er fand sie schon zu Lebzeiten und versuchte es auch Anderen zu verdeutlichen, dass die blaue Blume – die Erkenntnis des Höheren – auch für sie auf Erden erreichbar sein könnte. Imagination, Intuition und Inspiration (Prokofieff 1987: 70), und weiter Verwunderung, Kindlichkeit und die alles durchströmende Liebe können uns – wie ihn – nach diesem Ziel führen.
Allerdings müssen wir uns auf diesem Weg vor einigen Gefahren schützen, denen mancher romantische Novalis‘ Nachfolger zur Opfer gefallen ist. Vor allem wird hier die Depression gemeint, zu der es kommen kann, wenn es Einem unmöglich ist, sein Leben von idealisierter Vorstellung, einer Traumvorstellung davon zu unterscheiden. In solchem Fall kann es passieren, dass der Mensch in den dazwischenliegenden Abgrund hinfällt. Nicht in einer Traumwelt sollten wir leben, sondern in der realen, die wir uns aber „poetisiren“ können. „Nur hüte Dich vor allgemeiner Unzufriedenheit“ – ermahnte der Dichter seinen geliebten Bruder Erasmus (Zit. nach: Hardenberg 2010: 80). Die andere Gefahr, vor der uns Novalis warnt ist das, was er „kranke Phantasie“ nennt. Die Fähigkeit zum Phantasieren ist in seinem philosophisch-theologischen System eine der Rahmenbedingungen für das Hinaufsteigen auf höhere Erkenntnisstufe. Dabei müssen wir jedoch Folgendes beachten: „nur die Harmonie unserer Kräfte, die nur durch sie [reine Willenskraft] möglich ist, macht uns zu wahren Menschen, zu echten Wesen in der Reihe der Dinge und dem wunderbaren Zusammenhang der moralischen und physischen Welt. Wo kranke Phantasie, da ist auch kranke Empfindung und kranker Verstand“ (Zit. nach: Hardenberg 2010: 74). Novalis empfiehlt uns auch Ruhe und eine gewisse Gelassenheit. Er selbst, als sensibler, gefühlvoller Mensch musste mit einer Neigung zum feurigen Enthusiasmus gekämpft haben, die seinen schwächlichen Körper hätte noch schwächer machen können. Seine erste Liebeskummer verursachte beinahe, dass er – sich selbst zu disziplinieren, sich abzukühlen versuchend – um ein Haar zum Soldaten wurde. Er zählte die verschiedenen Vorteile des Soldatenstandes auf: „Mein Sinn wird Charakter, meine Erkenntnisse werden Grundsätze, meine Phantasie wird Empfindung, meine Leidenschaftlichkeit wohltätige Wärme, meine Ahnungen werden Wahrheit, meine Einfalt, Einfachheit, meine Anlage wird Verstand, meine Ideen wurden Vernunft. … Mein Geist und seine Bildung ist ohnedem mein heiligster Zweck“ (Zit. nach: Hardenberg 2010: 66-67). Daraus lässt sich folgern, dass wir unsere sterblichen Hüllen gar nicht zu überfordern brauchen, um in der Welt des Geistes schweben zu können (was natürlich einer popularisierten Meinung über die romantische Lebensart widerspricht). Auch darf die Philosophie des Novalis nicht als ein fertiges „Produkt“ für Alle verstanden werden. Vielmehr soll sie für Jedermann eine Einladung  auf die Reise in das eigene Ich bedeuten; das Sich-Selbst-Erlernen. „Um dies zu erfahren kann ich Dir nichts Besseres empfehlen, als sorgfältige Untersuchung, was du wirklich bist. Ungeduldig mußt Du freilich hierbei nicht sein; denn selbst dieser langsame Gang unserer Bildung und Entwicklung ist Natur“ (Zit. nach: Hardenberg 2010: 73). Als allerletzte Bemerkung führen wir die Worte des Dichters an, die wiederum dem popularisierten Zerrbild des romantischen Gedankenguts dagegen sprechen: „Das nil admirari des Horaz und zwäckmäßige, anhaltende Beschäftigung sind große Hilfsmittel, seinen Charakter fest und seine Ruhe, Unbefangenheit und gute Laune dauerhaft zu machen“ (Zit. nach: Hardenberg 2010: 74).

4.   Zur Entstehungsgeschichte des Romans „Heinrich von Ofterdingen“ von Novalis



Novalis arbeitete an seinem Roman „Heinrich von Ofterdingen“ von Dezember 1799 bis Oktober 1800 (Ritzenhof 2004: 137). Im Sommer 1799 in Artern machte sich der Dichter mit der Ofterdingen-Sage bekannt, die ihn sehr inspiriert hatte. Sein „Heinrich von Ofterdingen“ ist aber nicht bloße Verarbeitung dieses Stoffes. „Das ganze sollte eine Apotheose der Poesie seyn“ (Zit. nach: Thomas Roberg in: Lutz, Jeβing 2004: 585), sowie ein Anlass für eine Darstellung der philosophischen, theologischen und wissenschaftlichen Ansichten des Autors. Gewissermaßen diente der Roman auch als ein Werkzeug des Dichters für eine literarisch-philosophische Auseinandersetzung mit Goethes Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ (1795-96). Zunächst weckte im Novalis das Werk volle Begeisterung. Bald aber wich die Hochschätzung einer ablehnenden Kritik. Hardenberg nannte dieses umfangreiche Werk Goethes „durchaus prosaisch“ (Lutz, Jeβing 2004: 585). Goethe soll dort „blos von gewöhnlichen menschlichen Dingen“ handeln – „die Natur und der Mystizism sind ganz vergessen“ (Lutz, Jeβing 2004: 585).
Novalis beabsichtigte, nach der Vollendung des „Ofterdingen“ noch sechs große Romane zu schreiben, in denen er seine Meinungen über Physik, Geschichte, Politik und Liebe, sowie über das bürgerliche Leben und die Handlung niederlegen wollte (Tieck in Novalis 1902: 214). Dies, wie auch die Vollendung des ersten Romans, war ihm nicht gegeben. Als Novalis im Frühjahr 1801 starb, war nur der erste Teil des „Ofterdingen“ – „Die Erwartung“ fertig, sowie ein Anfang des ersten Kapitels vom zweiten Teil – „Die Erfüllung“.
1802 wurde der Roman posthum als Fragment veröffentlicht. Ludwig Tieck übernahm die Aufgabe, aus Notizen des Dichters  und aus Erinnerung an ehemalige persönliche Gespräche mit ihm, eine kurze Zusammenfassung der Handlung im geplanten zweiten Teil des Romans auszuarbeiten. Tieck verzichtete dabei auf eine schriftstellerische Ergänzung des Ganzen, vielmehr erzählte er der Nachwelt kurz und bündig von den Absichten seines Freuden Novalis. Ganz am Ende dieser Zusammenfassung, die sich im Anschluss an das Werk befindet, erklärt uns Tieck über seine Aufgabe und Arbeit: „Ich habe in dieser Anzeige lieber trocken und kurz sein wollen, als in die Gefahr geraten, von meiner Phantasie etwas hinzuzusetzen. Vielleicht rührt manchen Leser das Fragmentarische dieser Verse und Worte so wie mich, der nicht mit einer andächtigern Wehmut ein Stückchen von einem zertrümmerten Bilde eines Raphael oder Correggio betrachten würde“ (Tieck in Novalis 1902: 225). Der unersetzbare Verlust besteht vor allem darin, dass die Handlung des zweiten Teils eine Erweiterung, mancherorts auch Erklärung des ersten sein sollte. Die Hauptfigur – der werdende Dichter Heinrich – sollte zu einem verklärten Dichter werden, während zahlreiche andere Figuren in wunderbaren Verknüpfungen zurückkommen; alles vergeistigt durch Novalis` Philosophie und Mystizismus und ihre poetisch-allegorische Form.
Die Handlung des Romans spielt im Mittelalter, im 13. Jahrhundert. Unter den Figuren können wir historische, sagenhafte und ganz fiktive unterscheiden, dazu gibt es eine Reihe allegorischer. Oft wird eine Individualität auf mehrere Figuren verteilt.

5.   Wege nach Koexistenz eines romantischen Individuums mit der Gesellschaft geschildert in Novalis` „Heinrich von Ofterdingen“



Als wir als Leser zum ersten Mal dem jungen Heinrich begegnen, liegt er unruhig in seinem Bett. Es ist schon Nacht, das dunkle Zimmer wird nur manchmal durch den Mond erhellt. Seine Eltern schlafen schon, er aber kann es nicht. Am Tag hielt sich nämlich in ihrem Wohnort ein enigmatischer Fremde auf, der um sich manche Menschen sammelte, die seinen Erzählungen zuhörten. Auch Heinrich war unter diesen Menschen. Jetzt gedenkt er des Gehörten. Etwas hatte in ihm eine Sehnsucht erweckt, die er früher nicht gekannt. Nach einer Überlegung, wird er sich darüber im Klaren, dass es nicht die Schätze aus den Erzählungen sind, wonach er das Verlangen spürt. Schon auf der ersten Seite des Romans erfahren wir also über den jungen Helden, dass er nicht auf Besitz eingestellt ist. Das Vergängliche lockt ihn nicht. „[F]ern ab liegt mir alle Habsucht“, sagt er zu sich selbst (Novalis 1902: 63). Schon dies unterscheidet ihn von den Meisten. Der wichtigste Unterschied besteht jedoch darin, dass nur er unter den Zuhörern auf die sagenhafte blaue Blume richtig aufmerksam geworden war. Der Gedanke an sie stört seine Ruhe. Er weiß selber nicht, was sie bedeuten kann, aber er spürt ein starkes Bedürfnis, sie zu erreichen. Dabei folgt er seinen Ahnungen, dass sie, die geheimnisvolle Blume, ihn glücklich und erfüllt machen würde.
Plötzlich erkennt er seine eigene Andersartigkeit der Gesellschaft gegenüber. Er bemerkt, dass er der Einzige ist, der die blaue Blume im Gedanken behält: „die andern haben ja das Nämliche gehört, und keinem ist so etwas begegnet“ (Novalis 1902: 63). Wenn die „andern“ nach den Erzählungen des Fremden ähnliche Sehnsucht nicht spüren, dann können sie die seinige nicht begreifen – das ist natürlich ganz logisch. Auch dieser Tatsache wird sich Heinrich bewusst: „das kann und wird keiner verstehen“ (Novalis 1902: 63).
Novalis wollte wahrscheinlich nicht, dass die Leser seinen Helden als einen traumverlorenen Schwärmer empfinden, da er schon zwischen den entzücken Worten, welche Heinrich der blauen Blume, diesem noch unbestimmten Sehnen widmet, eine Bemerkung hineingeschrieben hatte, die sanft aber eindeutig vom klaren Verstandesdenken desselben deutet: „Ich glaubte, ich wäre wahnsinnig, wenn ich nicht so klar und hell sähe und dächte“ (Novalis 1902: 63). Auf diese Weise bekommen wir ein ganzheitliches Bild des jungen Helden: er ist ein klardenkender Mensch, kein Schwärmer, kein Outsider, er weist keine Sozialschwäche auf. Er nimmt am gesellschaftlichen Leben gern teil. Das Einzige, was ihn von den Übrigen unterscheidet, ist eine (noch nicht definierte) Berufung, von der er schon jetzt weiß, dass kaum jemand sie verstehen wird, die aber so stark ist, dass er ihr nicht widerstehen kann.
Von dem Zeitpunkt an möchten wir uns auf diesen jungen Menschen aufmerksam machen und beobachten, wie er sich – getrieben von innerer Sehnsucht – in der Gesellschaft verhalten wird.

Heinrich schläft endlich ein. Es träumt ihm ein entzückender Traum, als durchwanderte er Räume und Zeiten; gegen Morgen sieht er endlich eine „lichtblaue Blume“, die sehr schön ist und scheint eine Mischung aus Blüte, Frau und Geist zu sein[17]. Das letzte Gefühl im Traum ist das des Staunens. In diesem Moment – dem Moment höchster Spannung – wird der Schlafende plötzlich geweckt. Es ist die Stimme seiner Mutter, was ihn zum Wachzustand bringt. Man könnte vermuten, Heinrich würde sich jetzt ärgern. Novalis widerspricht diesen Vermutungen: Heinrich „war zu entzückt um unwillig über diese Störung zu sein“ (Novalis 1902: 66).
Für den jungen Helden war das eine schwierige Probe – auch wenn es sich diesmal nur um eine Traumvision handelte, war das doch etwas sehr Angenehmes für ihn, und die Außenwelt hatte es ihm unerwartet geraubt und zwang ihn zum gewöhnlichen Alltag zurück. Heinrich besinnt sich jedoch im Nu, konzentriert sich auf die positiven Seiten der ihm wohlbekannten Außenwelt (begrüßt seine Mutter, die ihm sehr lieb ist, lässt sich von ihr umarmen und erwidert diese Umarmung). Seine Waffe gegen Ärger ist die Entzückung, die der Traum hervorgerufen, und welche verursacht, dass das ungewollte Erwachen nichts löschen vermag. Er weiß – was geschehen ist, ist geschehen, das Träumen ist vorbei – wozu denn sich die schöne Erinnerung daran auf böses Hinbrüten zu wechseln?
Der ersten Probe folgt gleich die zweite: „‘Du Langschläfer‘, sagte der Vater“ (Novalis 1902: 66), und obwohl er das freundlich meinte, könnte er damit seinen Sohn unbewusst verletzen. Einige Augenblicke her offenbarte sich Heinrich sein höchstes Glück (auch wenn nur im Traum); dieses Glück wurde ihm (durch die Erweckung) entnommen und jetzt wird ihm nichts anderes als Faulheit vorgeworfen! Das benutzte Wort „Langschläfer“ weist darauf hin, dass man am Heinrichs Schlaf nichts besonderes bemerkte, er wurde nach gewöhnlichen Normen gemessen und als bloße Übertriebenheit beurteilt. Für die Außenwelt bleibt das Empfinden eines Ich unüberschaubar, denn sie kann nur das Äußere wahrnehmen. Heinrich versteht es und statt den lustigen Spitznamen seinen Eltern übel zu nehmen und sich herabgewürdigt zu fühlen,  bleibt er völlig ruhig, entschuldigt sich sogar dafür, dass er so lange im Bett bleibt, erklärt das zunächst damit, dass er lange nicht einschlafen konnte und erst dann sagt er, dass ihm etwas sehr Anmutiges träumte. Erst danach wagt er etwas mehr davon zu erzählen, das nämlich, dass er denkt, es sei „mehr als bloßer Traum gewesen“ (Novalis 1902: 66). Wieder stößt er auf Unverständnis. Die Mutter erwidert ihm: „du hast dich gewiβ auf den Rücken gelegt oder beim Abendsegen fremde Gedanken gehabt. Du siehst noch ganz wunderlich aus. Iβ und trink, daβ du munter wirst“ (Novalis 1902: 66). Diese liebevolle, gleich aber auch etwas spöttische Aussage ist etwas, woran sich ein romantisierendes Individuum gewöhnen muss: Der, den Menschen unbekannte Zustand wird von ihnen nicht ernst genommen. Es besteht die Gefahr, dass derjenige, den die Anderen auf diese Weise behandelt hatten, sich dann zurückzieht, denn wer würde schließlich wollen, dass man sein Heiligtum verlacht, bagatellisiert oder verneint. Das Ich versucht über die Sachen des Geistes zu reden, bekommt jedoch eine Antwort, die nur Physisches enthält:  „du hast dich gewiβ auf den Rücken gelegt! Iβ und trink!“ An diesem Beispiel beobachten wir übrigens eine totale Verdrehung, die sich oft auf der Linie: Ich und seine Umwelt zeigt. Sie funktioniert nach folgendem Muster: Das Ich erzählt der Außenwelt über das Geistige; die Außenwelt nimmt selbst die Absicht, von solchen Dingen erzählen zu wollen als eine Folge irgendwelcher physischen Ursachen (z.B. Mangel an Nahrung, unbequemer Schlaf); das Physische wiederum soll den Geist beeinflussen (stören); und so ist die Außenwelt davon überzeugt, dass nicht das Geistige sondern das Physische der Grund der (ihrer Meinung nach scheinbaren) Vergeistigung des Ich sei.
Die Mutter verlässt das Zimmer. Da hört Heinrich die Worte seines Vaters, der sich inzwischen an seine Arbeit macht: „Träume sind Schäume, mögen auch die hochgelahrten Herren davon denken, was sie wollen, und du thust wohl, wenn du dein Gemüt von dergleichen unnützen und schädlichen Betrachtungen abwendest“ (Novalis 1902: 66). Novalis konfrontierte seinen Helden, in dem immer noch innigste Entzückung glühte mit Spott und Ablehnung des Vaters. Diese oben angeführte Aussage enthält zwei wichtige Informationen über die Ansichten des Letzteren in Bezug auf das Thema „Träume“: Erstens, es sei eine Zeitverschwendung, darüber nachzudenken und den Träumen irgendwelche verschlüsselte Bedeutungen zuzuschreiben, wie das zum Beispiel die Philosophie oft macht; zweitens spricht der Vater deutlich dagegen, dass Heinrich ein Mensch wird, der solchem „Blödsinn“ folgt, weil das ihm sonst schaden würde. Das, was für den Sohn ein Heiligtum ist, bezeichnet der Vater als „unnütz“. Zwischen den Zeilen kann man einen Widerhall des aufklärerischen Utilitarismus wahrnehmen: Der Vater, der während des Gesprächs tüchtig arbeitet, und der den Ahnungen und der heißen Verwunderung seines Sohnes keinen Wert gibt, repräsentiert in diesem Moment den Geist der Aufklärung, die keinen Aberglauben leidet und die die Vita activa für die einzige akzeptable Lebensform hält. 
Heinrich gibt nicht auf und zieht sich nicht zurück. Zuerst wünscht er sich einen Grund zu hören, warum der Vater so sehr den Träumen entgegen ist, während man daraus mindestens den Vorteil ziehen kann, dass dadurch das Nachdenken rege wird. Dann macht er den Vater auf die Tatsache aufmerksam, dass – auch „ohne noch an göttliche Schickung dabei zu denken“ – Träume sind eng mit unserem „Inneren“, unserer Psyche verbunden; durch sie können wir etwas über uns selbst erfahren, denn sie sind „ein bedeutsamer Riβ in den geheimnisvollen Vorhang …, der mit tausend Falten in unseres Inneres hereinfällt“ (Novalis 1902: 67). Anschließend erinnert Heinrich den Vater, dass viele „glaubhafte Menschen“, derselben Meinung wie er sind und unter denen befindet sich auch der „ehrwürdige Hofkaplan“ (offensichtlich eine Autorität im Haus); dass jener neulich auch einen seiner Träume erzählt hatte, der sogar ihm – dem Vater selbst – „merkwürdig vorkam“ (Novalis 1902: 67). Heinrich präsentierte seinem Gesprächsgegner insgesamt vier gut überlegte, sachliche Argumente, und fragte nach einem einzigen – aber konkreten – Gegenargument. Er verzichtet auf Worte, die sich auf Empfindungen und Gefühle beziehen, stattdessen redet er diesmal in einer solchen Sprache, die gut für diejenigen verständlich ist, die des Verstandesdenkens gewöhnt sind. Als er mit diesem Verfahren die gezielte Wirkung schon erreicht hatte – wagt Heinrich das Empfinden wieder ins Gespräch hineinzuweben. Er wird nicht mehr verspottet.
Als die Mutter zurückerscheint, zieht sie aus den Erinnerungen seines Ehegatten, dass auch ihm einmal ein Traum träumte, der einen großen Einfluss auf seine Lebensentscheidungen verübte. Nach wie vor versucht sich der Vater das auf eine rationale Weise zu erklären: es träumte ihm damals seine künftige Frau, nur weil er sie früher schon kannte, usw. Heinrich nutzt die Gelegenheit und bittet, ihm etwas mehr davon zu erzählen.
Es hat sich erwiesen, dass auch der Vater einst von der blauen Blume träumte, doch weil er sich bald gänzlich der Vita activa widmete, geriet dieser Traum und die Entzückung nach dem Anschauen der Blume in völlige Vergessenheit. Für Heinrich ist das nicht ganz ohne Bedeutung, weil er erkennt, dass manchmal hinter einem Vorhang des kalt denkenden Verstandes ein Menschenherz verborgen steckt, dass seine Sehnsucht verstehen könnte; er müsste nur geschickt die verborgene Öffnung in dem Vorhang auseinanderziehen.

Im zweiten Kapitel des Romans brechen Heinrich und seine Mutter in Begleitung von Kaufleuten nach Augsburg auf, wo sich das Haus seines Großvaters mütterlicherseits befindet. Somit glaubt die Mutter zwei Dinge zu erzielen: einerseits den Wunsch ihres lieben Vaters, den Enkel kennen zu lernen, zu erfüllen, andererseits sollte eine lange Reise voller Neuheiten den plötzlich veränderten Sohn, der ihrer Meinung nach krankhaft trüb geworden sei, wieder heiter und gesellig machen (Novalis 1902: 72). Ungeachtet der mütterlichen „List“, freut sich Heinrich auf die Reise, weil er bisher (in dem Moment ist er zwanzig Jahre alt) nur seine Vaterstadt samt den umliegenden Gegenden kannte (Novalis 1902: 72) Er sehnte sich danach, die ferne Welt zu sehen.
Die Reisenden brechen auf. Die erste Empfindung ist dabei die der Trauer. Heinrich erkennt, wie schwer ist es, von den Menschen und von allem Wohlbekannten Abschied zu nehmen. Die ganze Gesellschaft bewegt sich anfänglich stillschweigend und in sich versunken vorwärts (Novalis 1902: 74,75). Novalis betont damit, dass eine solche Trauer, das Gefühl, wenn man jemanden oder etwas verlassen muss, allen Menschen eigen ist. Ein gemeinsam gefühltes Empfinden bildet immer eine gute Basis für das gegenseitige Verständnis. Und gerade diese Empfindung sei besonders stark, meint Novalis. Die erste Trennung macht uns nämlich die Vergänglichkeit bewusst und ist „eine erste Ankündigung des Todes.“ (Novalis 1902: 74)
Die Mutter, die sich auf ihren pragmatischen Reiseziel besinnt, bricht als Erste die Stille und beginnt über ihr Vaterland Schwaben zu erzählen. Die Kaufleute schalten sich in das Gespräch ein und preisen das Land, als den freundlichsten und schönsten Ort, den sie kennen. Es ist eine halb utopische Vorstellung eines wirklich existierenden Landes. Diese Utopie könnte realisierbar sein, mindestens scheint der Dichter so zu glauben. Sie beruht nämlich nicht auf einer „von oben gegebenen“ perfekten Ordnung oder einfach existierendem Wohlstand, sondern sie ist das Ergebnis von der Arbeit der Bewohner an sich selbst. Diese wussten in allen Bereichen ihres Lebens die goldene Mitte zu finden. Vor allem geht es hier um das Verteilen der Arbeits- und Erholungszeit. Es wird mit Hingabe gearbeitet, dann aber, am Abend und an freien Tagen, gibt es Zeit ausschließlich für die Vergnügungen. „Die Menschen wissen das Nützliche zu befördern, ohne das Angenehme zu verachten“ (Novalis 1902: 75). Die Fähigkeit, sich die Erholungszeit für Leib und Seele zu verschaffen, verursacht, dass eine vergrößerte Nachfrage nach Künstlern aller Art entsteht. In der Folge davon können sich auch die Letzteren in der Gesellschaft zurechtfinden, denn auch sie für ihre Arbeit anerkannt und belohnt werden, obwohl ihre Arbeit ganz anderer Natur ist. Alle Menschen in diesem Schwaben arbeiten um zu leben, und nicht etwa umgekehrt – leben um zu arbeiten. Demzufolge, wie die Kaufleute berichten, ist ihr Wesen milder, freudiger und offener, und die Arbeit fällt ihnen viel leichter, wovon das Land profitiert: „Geld, Tätigkeit und Waren erzeugen sich gegenseitig und treiben sich in raschen Kreisen“ (Novalis 1902: 75). Eine solche Utopie scheint mehr oder weniger realisierbar sein; auch ein einzelner Mensch kann sich auf solche Lebensart entscheiden. Bestimmt würde das dort leichter zu machen, wo die Anderen nach gleichem Muster handeln. Es wird erzählt, dass nach Schwaben (dies utopische Schwaben), verschiedene Schöngeister und Künstler ziehen, als ob Novalis allen ihm gegenwärtigen und zukünftigen Schöngeistern und Künstlern sagen wollte: Suchet euch einen Ort, wo eure Arbeit belohnt wird; bleibt nicht dort, wo man sie nicht schätzt![18]
An dem, worüber die Kaufleute gerade gesprochen hatten, lässt sich noch etwas feststellen, was vielleicht dem ersten Blick entflieht, was sich uns aber nach einer Weile gut sichtbar zeigt. Es geht nämlich um die Tatsache, dass die Kaufleute in der Begleitung von Heinrich plötzlich über Kunst: Poesie, Gesang, Malerei und dergleichen zu reden anfangen. Das passiert nicht ohne Grund. Selbst die Gegenwart, die Nähe eines Künstlers oder eines Kunstliebenden, ist imstande die Anderen dazu zu bewegen, über die Sachen des „Tiefsinns“ zu denken und zu sprechen. Die Kaufleute ahnen, dass etwas dieser Art Heinrich interessieren könnte, sie spüren sein Enthusiasmus und lassen sich von ihm bestrahlen.
Die gesellschaftlich positive, verbindende Rolle des Enthusiasmus` besteht darin, dass er die wahre Natur eines Menschen aus seinem Innern hervorzieht und sie den Anderen offenbart, was nicht zu unterschätzen ist. Dazu ist seine Wirkung gegenseitig. Er kann uns dabei verhelfen, gemeinsame Themen unterbewusst zu wählen. Außerdem, wenn die Anderen sehen, dass wir auf ihre Worte enthusiastisch reagieren, sind sie sich sicher, dass wir das wahrhaftig tun, denn Enthusiasmus lässt sich eigentlich nicht vorspielen. Wahrhaftigkeit wiederum erzeugt Wahrhaftigkeit und unsere Mitmenschen befinden sich in einer komfortablen Lage, wo sie nicht zu fürchten brauchen, uns gegenüber natürlich und offen zu sein.
Die Atmosphäre wird vertraut, die sich unterhaltenden Reisenden entspannen sich. In diesen himmlischen Frieden wirft Novalis unerwartet einen Zankapfel hinein, und zwar nicht irgendeinen, sondern einen solchen, der – bis an den heutigen Tag – heftigste Kontroverse hervorruft. Es handelt sich um die Frage, ob sich die Kirche in die Politik und in die Wissenschaft einmischen sollte oder nicht. Die Kaufleute sind dagegen (sie beginnen die Diskussion mit einer Attacke), Heinrich ist dafür, und repräsentiert damit die Ansichten des Novalis.[19] Es ist bemerkenswert, dass der Dichter – der Mystiker und Befürworter der entscheidenden Rolle des Glaubens in allen Aspekten des irdischen Daseins der Menschen, dass er ganz am Anfang der Auseinandersetzung, gewichtige, sachliche und bis heute aktuelle Gegenargumente auf die Lippen der Kaufleute legt. Diese sind:
1)    Die Geistlichen sind „von dem weltlichen Leben abgesondert“, deswegen sollten ihnen die Wissenschaften abgenommen werden. 
2)    Sie sind zu ungesellig und zu unerfahren, als das die Fürsten von ihnen beraten werden sollten.
3)    „In der Einsamkeit, in welcher sie nicht selbst teil an den Weltgeschäften nehmen, müssen ihre Gedanken eine unnütze Wendung erhalten und können nicht auf die wirklichen Vorfälle passen.“
4)    Auch unter den Leien findet man „erfahrne Männer.“ (Novalis 1902: 76)

Auf diese, wirklich schwere Vorwürfe muss Heinrich (und Novalis) jetzt antworten. Er wird seine Meinung verteidigen wollen, doch nicht auf eine aggressive Weise, welche die verschiedensten Diskussionen zu einem Streit macht. Zuerst überlegt er sich alles und erst „nach einer Weile“ (Novalis 1902: 77) erzählt über das ihm sehr nahe Beispiel des bekannten Hofkaplans, der für ihn immer ein guter Lehrer und Ratgeber war, „der gewiβ ein Muster eines weisen Mannes ist“ (Novalis 1902: 77). Das Beispiel überzeugt seine Gesprächsgegner nicht. Zwar stimmen sie Heinrich zu, dass der Hofkaplan ein ehrenwerter Mensch ist, doch seine Weisheit bezieht sich auf die „Sachen des Heils“ und auf Überirdisches (Novalis 1902: 77), was mit der Weltklugheit wenig zu tun hat. Heinrich erwidert mit der Suggestion, dass vielleicht „diese höhere Kunde ebenso geschickt machen“ kann, und dass sie dabei behilflich sein könnte, „recht unparteiisch den Zügel menschlicher Angelegenheiten zu führen“ (Novalis 1902: 77). Er meint, „jene kindliche, unbefangene Einfalt“, trifft „sicherer den richtigen Weg durch das Labyrinth der hiesigen Begebenheiten“ (Novalis 1902: 77). Demgegenüber die weltliche Klugheit wird oft „geblendet, irregeleitet und gehemmt, sei es von der unerschöpflichen Zahl neuer Zufälle und Verwickelungen, oder durch Rücksicht auf eigenen Vorteil“ (Novalis 1902: 77). Weiter vergleicht Heinrich zwei Wege, zur Weisheit zu kommen: den Weg der Erfahrung und den, der „inneren Betrachtung“ (Novalis 1902: 77). Während der erste lang, mühsam und krumm sei, sei der zweite einem „Sprung“ gleich, weil er die „Natur jeder Begebenheit und jeder Sache gleich unmittelbar anschau[en]“ lässt (Novalis 1902: 77).
Mit solchen Argumenten rechneten die Kaufleute nicht. Sie gestehen, dass sie davon wenig verstehen (Novalis 1902: 77). Beide Seiten bleiben also bei ihren Meinungen und auch die Frage, wer hier Recht hat, bleibt unbeantwortet.
Diese, könnte man sagen „fehlende“ Lösung wurde von Novalis gezielt so konstruiert  und die Form dieser Auseinandersetzung beinhaltet wichtige Hinweise zur Diskussionsführung im Falle der sogenannten „Streitfällen“, egal, ob der Konflikt am Thema oder aber an den verschiedenen Naturen der Gesprächsgegner liegt. Die oben dargestellte Situation enthält beides.
Wir kommen zum folgenden Schluss: Der Sinn der Diskussion ist nicht die Meinungsänderung einer der Seiten, sondern die Möglichkeit, einender besser verstehen zu können!
Auch, wenn man bei seiner Meinung fest bleibt, hat man die Chance, die Gründe kennen zu lernen, warum der Andere anders denkt. Das Verständnis erzeugt gegenseitigen Respekt. Diese Achtung drückt sich dann sogar darin aus, wie die Auseinandersetzung verläuft: man spricht nicht etwa: „ich weiß“, „es ist so und so“, sondern bezieht seine Meinung auf sich selbst, indem er zum Beispiel sagt: „mir dünkt“ (Novalis 1902: 77), „wir ehren [deine Meinung davon], aber dennoch können wir [ihr] nur insofern Beifall geben, daβ…“ (Novalis 1902: 77). Bei solch einer Diskussion verwandeln sich die Gesprächsgegner in wahre Gesprächspartner.

Der Roman besteht aus unzähligen Gesprächen, Erzählungen und lehrhaften Reden. Der literarische Topos einer Wanderung (Heinrich und die Anderen wandern nach Augsburg) wird von dem inneren Werdegang Heinrichs (zum Mann und zum Dichter) begleitet, der sich auch (wenn nicht vor allem) in den Gesprächen vollführt. Gleich nach dem Meinungsaustausch in Bezug auf Kirche und Politik, gehen die Wanderer zum Thema Poesie über. Aus dem reichen Wortschatz Heinrichs und seiner Neigung zum „Wunderbaren“, schließen die Kaufleute, er wäre zum Dichter veranlagt (Novalis 1902: 78). Heinrich, der in diesem Moment nur eine dunkle Ahnung von der Poesie hat (er hatte noch keinen Dichter gesehen oder gehört), bekommt jetzt zum ersten Mal die Chance, etwas darüber zu erfahren, weil die Kaufleute schon mehrere Künstler getroffen hatten. Die Letzteren sind vergnügt, dem jungen Mann einiges darüber zu erzählen, obwohl, wie sie selbst gestehen, sie sich bisher „nie um die Geheimnisse der Dichter bekümmert“ hätten (Novalis 1902: 78). An diesem Beispiel sehen wir, dass – wenn das romantische Ich es der Gesellschaft erlaubt – kann sie ihm etwas beibringen, und sie wird es mit wahren Gefallen tun. Wenn wir uns vorstellen, Heinrich würde den Kaufleuten sagen, sie hätten kein Recht sich über Poesie zu äußern, weil sie sie nicht bis auf den Grund begreifen können, dann können wir vermuten, die Kaufleute würden sich verletzt fühlen uns sich vor dem hochnäsigen Jungen verschließen, was allmählich zu einem Konflikt führen könnte. Heinrich jedoch, der seine Andersartigkeit gegenüber den Übrigen fühlt, sondert sich von ihnen nicht aus und sucht sich in ihren Erzählungen das aus, was ihm wichtig und wertvoll erscheint. Ein paar Überlegungen mit Entzückung gehört, erbittet Heinrich von seinen Reisegefährten, ihm von den Sängern, welche sie getroffen hatten, einiges zu sagen (Novalis 1902: 80). Die Kaufleute erzählen manche von den Letzteren gehörte Geschichten nach. Auf diese Weise macht sich Heinrich mit der Orpheus- und Arionsage vertraut. Das ganze dritte Kapitel des Romans füllt die nächste Geschichte, das sogenannte „Atlantis-Märchen“, wo es sich – wie in den zwei vorigen Sagen – um wunderbare Wirkungen der Poesie handelt (Ritzenhof 2004: 27).

Rüdiger Safranski in seinem Buch „Romantik – eine deutsche Affäre“ schreibt: „Die Romantik triumphiert über das Realitätsprinzip. Gut für die Poesie, schlecht für die Politik, falls sich die Romantik ins Politische verirrt“ (Safranski 2007: 13). Novalis, für den das Ideale das Reale war, scheint diese Gefahr zu erkennen und warnt die Romantiker davor, in den politischen oder/und religiösen Fragen allzu rasch Urteile zu fällen. Im vierten Kapitel des „Ofterdingen“ malt der Dichter vor unseren Augen eine solche Situation, wo innerhalb einer konkreten Menschengruppe die Manipulations- und Selbstmanipulationsmaschine in Bewegung gebracht werden kann. Derselbe Enthusiasmus, der vorher als ein Faktor dargestellt wurde, der eine positive, verbindende Rolle zwischen einem romantischen Ich und der Gesellschaft spielen kann, zeigt sich jetzt von seiner dunklen Seite. Es besteht nämlich die Gefahr, dass er in einen blinden – und blendenden – Eifer ausarten kann. Natürlich nicht nur in der Politik wäre das fatal, aber vor allem in der Politik, denn sie betrifft ganze Massen.
Heinrich und die Reisenden kommen auf ein Schloss, dessen Herr ein alter Kriegsmann ist, der die Langeweile des Friedens mit Feiern und Trinken unter anderen Kriegsmännern zu töten versucht. Die Ankommenden werden herzlich begrüßt, an den Tisch gesetzt und mit vollen Bechern beschert. Natürlich wird es von Kämpfen und Abenteuern erzählt, und Heinrich hört sich das mit Aufmerksamkeit an (Novalis 1902: 101). Auf diese Weise erfährt er, wie „fröhlich und wunderbar“ das Leben „im Felde und im Lager“ ist (Novalis 1902: 102) und welch eine wichtige Mission die Ritter im heiligen Lande zu erfüllen haben: Dort, geschändet von den Sarazenen, befindet sich das heilige Grab, das sie erlösen wollen.
Der Schlossherr legt dem Jungen seinen Schwert in die Hände. Die laute, trinkende Gesellschaft, die traurige Geschichte von dem Grab Jesu, das sich im Besitz der Frevelhaften befindet (vergessen wir nicht, wie religiös Heinrich ist), das prächtige Schwert, die ermunternden, „brüderlichen“ Ausrufe und – bestimmt auch – der Alkoholrausch, all das verursacht, dass sich bald auch Heinrich „von einer kriegerischen Begeisterung ergriffen“ fühlt (Novalis 1902: 102). Er küsst das Schwert. Die versammelten Ritter erzählen von einer neuen, baldigen Kreuzfahrt und versuchen den jungen Mann als neuen Mitkrieger zu gewinnen, indem sie ihm über schöne, morgenländische Mädchen berichten, die man sich dann (wie der alte Schlossherr) als Gefangene nehmen kann (Novalis 1092: 102). Der Enthusiasmus Heinrichs steigt; er ist entschieden, Kreuzfahrer zu werden. Der Entschluss wird noch durch das Lied bekräftigt, welches „damals in ganz Europa gesungen wurde“ (Novalis 1902: 102). Und was es in diesem Lied nicht alles gibt:

„Das Grab steht unter wilden Heiden,
Das Grab, worin der Heiland lag,
Muβ Frevel und Verspottung leiden
Und wird entheiligt jeden Tag.
Es klagt heraus mit dumpfer Stimme:
‚Wer rettet mich von diesem Grimme?‘“ (Novalis 1902: 102-103)

Alle zehn Strophen sind so konstruiert, dass sie in den Singenden wahre Wut und Hass den „Heiden“ gegenüber erzeugen, sie stellen die Kreuzfahrer beinahe als Heilige oder Märtyrer dar. Das Grab, das laut jammert und weint, weil es „jeden Tag entheiligt“ wird, ist natürlich eine bildhafte Propaganda-Darstellung, welcher jeder Christ leicht zur Opfer fallen kann. Ein charakteristisches Merkmal der Propaganda-Lieder ist auch, dass sich die Menschen (die Hörenden und die Mitsingenden) persönlich angesprochen fühlen sollten. Das Grab ruft: „Wer rettet mich?“ und ein Jeder will antworten: Ich! Dabei selbst der Entschluss, es zu befreien, verursacht, dass sich der „Retter“ schon als ein Held fühlt, und dass er, schon wegen des bloßen Entschlusses, auf sich selbst stolz ist.
Alle diese Bestandteile: männliche, exklusive Gesellschaft, Vorstellung von heroischen Taten, Überzeugung, dass man sich auf der guten Seite befindet, schöne Frauen als Belohnung und sogar Gottes Segen, alles begossen mit dichtem Propaganda-Saft – all das hat die Aufgabe zu verführen. Und je mehr enthusiastisch die Natur eines Menschen, desto schneller erfolgt seine Verführung und Verblendung: „Heinrichs ganze Seele war in Aufruhr, das Grab kam ihm wie eine bleiche, edle, jugendliche Gestalt vor, die auf einem groβen Stein mitten unter wildem Pöbel säβe und auf eine entsetzliche Weise gemiβhandelt würde“ (Novalis 1902: 104).
In diesem Moment der Handlung kommt es zu einer Wende: Die Mutter ruft Heinrich herbei. Er beruhigt sich ein bisschen und bittet um die Erlaubnis, nach draußen gehen zu dürfen, und er bekommt diese. Der Spaziergang im Freien kann folgendermaßen gedeutet werden: Heinrich entfernt sich von der laut feiernden Gesellschaft, weil er (intuitiv) die Notwendigkeit fühlt, sich alles im Stillen noch einmal zu überlegen, mit sich selbst klar zu kommen; an das Wortschatz des Novalis anknüpfend – sich „abzukühlen“. Draußen wird ihm die Gelegenheit geboten, frisch nach dem kriegerischen Eifer, die gehörten Geschichten zu verifizieren. Er trifft das morgenländische Mädchen Zulima (die „Beute“ des Schlossherren). Zuerst hört er Zulima ein Lied singen, aus dem er erfährt, was die Kreuzfahrer ihr und ihrer Familie angetan hatten:

„‘Fürchterlich wie Meereswogen,
Kam ein rauhes Heer gezogen,
Und das Paradies verschwand.

‘Fürchterliche Gluten flossen
In die blaue Luft empor,
Und es drang auf stolzen Rossen
Eine wilde Schar ins Thor.
Säbel klirrten, unsre Brüder,
Unser Vater kam nicht wieder,
Und man riβ uns wild hervor.

‘… Wäre nicht das Kind vorhanden,
Längst hätt` ich des Lebens Banden
Aufgelöst mit kühner Hand.“ (Novalis 1902: 106)

Noch eine Weile vorher sah Heinrich in den Kreuzfahrern vorbildhaft handelnde Helden und in den Heiden beinahe Unmenschen, jetzt sieht er alles von der anderen Seite: es sind die „Helden“, die ihm als unmenschliche Angreifer vorkommen. Im weiteren Verlauf der Handlung erzählt Zulima über ihr Vaterland, wie märchenhaft schön es ist und wie die Menschen dort Poesie und Natur zu schätzen wissen. Auch widerspricht sie dem Menschenbild ihrer Landsleute, wie es von den Rittern ausgemalt wurde: „Nirgends wurden Gefangene groβmütiger behandelt, und auch Eure Pilger nach Jerusalem wurden mit Gastfreundschaft aufgenommen, nur daβ sie selten derselben wert waren. … Wie ruhig hätten die Christen das heilige Grab besuchen können, ohne nötig zu haben, einen fürchterlichen, unnützen Krieg anzufangen…? (Novalis 1902: 108) Zulima erklärt ihm auch, dass das heilige Grab auch für ihre Landsleute eine heilige Stätte ist. „[W]ie schön hätte sein heiliges Grab die Wiege eines glücklichen Einverständnisses, der Anlaβ ewiger, wohlthätiger Bündnisse sein können!“ (Novalis 1902: 109)
In seinem Roman gibt Novalis dem jungen Helden die Möglichkeit, sich die zwei Seiten der Medaille beinahe gleichzeitig anzuschauen; normalerweise jedoch ist das den Menschen nicht gegeben. Deswegen müssen wir immer wachsam bleiben, besonders wenn wir impulsiv handelnde, enthusiastische Naturen sind, mit der Neigung zum Idealisieren. Es besteht nämlich die Gefahr, erstens – dass jemand uns ausnutzen, betrügen kann; genauso gut können wir uns aber selbst in der sumpfigen Gegend der Moral verirren. Wenn wir uns selbst beobachten, erlernen, wenn wir unsere eigene Natur gut kennen, dann ist es sicher schwerer, uns zu manipulieren.

Im fünften Kapitel wird erzählt, wie die Reisenden, in einem Wirtshaus angekommen, einen alten Bergmann treffen. Dieser spricht über das Leben der Bergleute und über ihre schwere aber auch außergewöhnliche Arbeit. Danach sammelt er eine willige Gruppe von Bauern und Kaufleuten, um gemeinsam in eine Berghöhle zu gehen, die sich in der Nähe befindet. Heinrich ist auch dabei.
Der alte Bergmann zieht die Aufmerksamkeit der Reisenden und anderer Trinkgäste im Wirtshaus auf sich. An seiner Kleidung merkt man, dass er aus fremden Landen gekommen sein muss. Die Menschen sind neugierig, gesellen sich also zu ihm, um etwas Spannendes zu hören. Es erweist sich, dass der gebürtige Böhme ein hervorragender Erzähler ist, und seine Erörterungen zeugen von vielen Kenntnissen und Macht. Mit seiner Lebensgeschichte, bezaubert er die Versammelten. Auch sein bescheidenes Verhalten gewinnt ihre Herzen.
Aus den Reden des Bergmanns ziehen wir wichtige Lehren, die sich auf das gesellschaftliche Leben beziehen. Wie wir schon besprochen haben, sieht Novalis in der „zweckmäßige[n], anhaltende[n] Beschäftigung … Hilfsmittel, seinen Charakter fest und seine Ruhe, Unbefangenheit und gute Laune dauerhaft zu machen“  (Hardenberg 2010: 74). Jetzt wird diese These erweitert: ein Jeder sei für eine konkrete Arbeit und eine konkrete Lebensart prädestiniert; nur wenn man seine eigene Berufung erkennt und ihr folgt – nur dann sei seine Arbeit von Vorteil, sowohl für ihn als auch für die Anderen. Der alte Bergmann sagt:

„Es läβt sich auch diese volle Befriedigung eines angeborenen Wunsches, diese wundersame Freude an Dingen, die ein näheres Verhältnis zu unserem geheimen Dasein haben mögen, zu Beschäftigungen, für die man von der Wiege an bestimmt und ausgerüstet ist, nicht erklären und beschreiben. Vielleicht daβ sie jedem andern gemein, unbedeutend und abschreckend vorkommen wären, aber mir scheinen sie so unentbehrlich zu sein wie die Luft der Brust und die Speise dem Magen.“ (Novalis 1902: 114)

          Als Beispielbeschäftigung, die sich gut für romantische Individuen, sogar für Poeten, eignet, wird im Roman die der Bergleute dargestellt. Anfänglich kann diese Idee wunderlich vorkommen, besonders, wenn man an der popularisierten Vorstellung von der Romantik hängt. Man kann sich fragen: Was ist denn so romantisch an der schweren, gefährlichen Arbeit, an der Begleitung von rauen Mitarbeitern in der Dunkelheit der wuchtigen Berge? Beachten wir zwei folgende Tatsachen: Der mystische Poet Novalis studierte an der Bergakademie. Der Autor Novalis preist das Bergmannsfach. Das ist natürlich kein Zufall. Im Lebenstill der Bergleute sieht er eine Alternative zum Lebenstill der Konsumgesellschaft. Im Roman werden diese zwei verglichen. Fassen wir den Vergleich tabellarisch zusammen:


Bergleute
Der Rest der Gesellschaft
Die Arbeit erweckt „Glauben an eine himmlische Weisheit und Fügung“, erhält „Unschuld und Kindlichkeit des Herzens“ rein (Novalis 1902: 116).




Einstellung auf Besitz (Novalis 1902: 116,117).

Das Leben, die Natur, die schönen Momente im Leben wirklich schätzen zu wissen (Novalis 1902: 116,117).



Dankbarkeit (Novalis 1902: 117).

Gewöhnung „zu einer stumpfen Gleichgültigkeit gegen [die] überirdischen tiefsinnigen Dinge“  (Novalis 1902: 117).



Die „kindliche Stimmung“ wird behalten, was alles in seinem eigentümlichen Geiste und in seiner ursprünglichen bunten Wunderbarkeit erschein[en]“ lässt  (Novalis 1902: 117).





Erkenntnis, dass die Natur „nicht der ausschließliche Besitz eines Einzigen sein“ will (Novalis 1902: 117).



„[Die Natur] als Eigentum verwandelt sich in ein böses Gift, was die Ruhe verscheucht und die verderbliche Lust, alles in diesen Kreis des Besitzers zu ziehen, mit einem Gefolge von unendlichen Sorgen und wilden Leidenschaften herbeilockt“ (Novalis 1902: 117).








Ruhe, gesunde Genügsamkeit (Novalis 1902: 117).

Entfernung „von dem unruhigen Tumult des Tages“ (Novalis 1902: 117).


Beseelung „von Wiβbegier und Liebe zur Eintracht“ (Novalis 1902: 117).


„Unermüdliche Geduld“ (Novalis 1902: 117).

Zerstreuung der Aufmerksamkeit „in unnütze Gedanken“ (Novalis 1902: 117).


„Das wahrhafte Vertrauen [zum] himmlischen Vater“ (Novalis 1902: 117).



          Natürlich ist das Bergmannsfach nicht als die einzige Möglichkeit zu betrachten, Glück und Selbstverwirklichung im Alltagsleben zu finden. Vielmehr könnte uns der oben dargestellte Vergleich verhelfen, eigene Prioritäten zu erkennen. Wenn man diese schon weiß, ist es viel leichter, den Entschluss zu fassen, welche Tätigkeit die beste wäre. Natürlich unter der (Rahmen)Bedingung, dass es eine Wahl gäbe. Wenn wir aber bedenken, dass mindestens ein Drittel unseres Lebens das Arbeiten ist – lohnt es sich nach einer solchen Beschäftigung zu suchen, welche die inneren Konflikte nicht auslösen wird.
          Das auf die Reden des Alten folgende Lied ist im Grunde genommen eine poetische Wiederholung des Lobes der bergmännischen Lebensart. Es beginnt mit den Worten: „Der ist der Herr der Erde, Wer ihre Tiefen miβt“ (Novalis 1902: 119). Man könnte es sowohl wortwörtlich als auch rein metaphorisch verstehen: Nur Derjenige, dem die Erkenntnis von „tiefsinnigen Dingen“ am wichtigsten ist, „der ist der Herr der Erde“. Die vergeistigte Natur erwidert des Bergmanns Liebe und Treue und eröffnet ihm den Weg zur Erkenntnis: 

„Der Vorwelt heil`ge Lüfte
Umwehn sein Angesicht,
Und in die Nacht der Klüfte
Strahlt ihm ein ew`ges Licht.“ (Novalis 1902: 119)

          Letztendlich wird noch einmal die Genügsamkeit der Bergleute betont: Das Gold und die Edelsteine verderben sie nicht, denn sie behalten sie nicht: „Er bleibt auf den Gebirgen Der frohe Herr der Welt“ (Novalis 1902: 120).
          Der verderblichen Macht des Goldes – der Eistellung auf Besitz – widmet Novalis das zweite Bergmannslied. Die Menschen fallen ihrer Habsucht zur Opfer, sie werden Sklaven des Königs (=des Goldes):

„Ein unermeβliches Geschlecht
Umgibt die festverschloss`nen Pforten,
Ein jeder spielt den treuen Knecht
Und ruft den Herrn mit süßen Worten.
Sie fühlen sich durch ihn beglückt
Und ahnden nicht, daβ sie gefangen,
Berauscht von trüglichem Verlangen
Weiβ keiner, wo der Schuh ihn drückt.“ (Novalis 1902: 121)

          Das Traurige dabei ist, dass es sich um ein „unermeβliches Geschlecht“ handelt, einen riesigen Teil der Gesellschaft. Diese hohe Anzahl kann auf das romantische Individuum bedrückend wirken, deswegen ist es sehr wichtig, dass es sich gut überlegt, wie und mit welchen Menschen es seine Werktage verbringen sollte, um nicht ständigen inneren und äußeren Konflikten ausgesetzt zu sein.
Das Bergmannsfach, wie es im Roman dargestellt wurde, kann als Muster einer Arbeit betrachtet werden, die mit der inneren Konstruktion eines Romantikers übereinstimmt. Wenn wir in die von uns bearbeitete Tabelle unsere eigenen Prioritäten markieren und diese dann mit dem von uns ausgeübten Beruf vergleichen, bekommen wir die Antwort, inwieweit diese Beschäftigung zu uns passt:

Ich
Mein Beruf
Die Arbeit erweckt „Glauben an eine himmlische Weisheit und Fügung“, erhält „Unschuld und Kindlichkeit des Herzens“ rein (Novalis 1902: 116).





Einstellung auf Besitz (Novalis 1902: 116,117).


Das Leben, die Natur, die schönen Momente im Leben wirklich schätzen zu wissen (Novalis 1902: 116,117).




Dankbarkeit (Novalis 1902: 117).


Gewöhnung „zu einer stumpfen Gleichgültigkeit gegen [die] überirdischen tiefsinnigen Dinge“  (Novalis 1902: 117).




Die „kindliche Stimmung“ wird behalten, was alles in seinem eigentümlichen Geiste und in seiner ursprünglichen bunten Wunderbarkeit erschein[en]“ lässt  (Novalis 1902: 117).






Erkenntnis, dass die Natur „nicht der ausschließliche Besitz eines Einzigen sein“ will (Novalis 1902: 117).




„[Die Natur] als Eigentum verwandelt sich in ein böses Gift, was die Ruhe verscheucht und die verderbliche Lust, alles in diesen Kreis des Besitzers zu ziehen, mit einem Gefolge von unendlichen Sorgen und wilden Leidenschaften herbeilockt“ (Novalis 1902: 117).









Ruhe, gesunde Genügsamkeit (Novalis 1902: 117).


Entfernung „von dem unruhigen Tumult des Tages“ (Novalis 1902: 117).



Beseelung „von Wiβbegier und Liebe zur Eintracht“ (Novalis 1902: 117).



„Unermüdliche Geduld“ (Novalis 1902: 117).


Zerstreuung der Aufmerksamkeit „in unnütze Gedanken“ (Novalis 1902: 117).



„Das wahrhafte Vertrauen [zum] himmlischen Vater“ (Novalis 1902: 117).




          Der alte Bergmann, dem in der Stube zu „dumpf“ ist, entschließt sich einen nächtlichen Spaziergang nach den Höhlen, die ihm während des Tages merkwürdig vorkamen und fragt die Anderen, ob sie Lust hätten, mitzugehen (Novalis 1902: 122, 123). Der Leser erfährt, dass sie Bewohner des Dorfes bisher Angst von den Höhlen hatten, die sich so nah bei ihnen befinden. Versuchen wir das nicht nur wortwörtlich aber auch metaphorisch zu deuten, indem wir an Stelle des Hinabsteigens in die Tiefen der Erde, das Versenken in die „tiefsinnigen Dinge“  verstehen. Als Resultat bekommen wir ein Bild von Menschen, die sich davor fürchten – die Angst wird vom Aberglauben vergrößert, sie wollen sogar Drachen in der Nähe gesehen zu haben, einige sogar Knochenreste der verzehrten Menschen! (Novalis 1902: 123) Was sind diese Drachen, könnte man sich fragen. Vielleicht sind sie Symbole einer großen, geheimen Macht, die von den Menschen nicht kontrolliert oder beherrscht werden kann; einer gefährlichen Urmacht, die einen unerfahrenen Wagehals verschlingen oder verbrennen könnte. Die Menschen fühlen es intuitiv, dass es gefährlich ist, dieses Versenken. Wenn sie aber von einem alten, erfahrenen Führen eingeladen werden, entscheiden sich Einige, mitzugehen. Merken wir jedoch dabei, der alte Bergmann macht sich auf den Weg nur mit Licht ausgerüstet, während die Anderen „zum Überfluβ mit Leitern, Stangen, Stricken und allerhand Verteidigungswerkzeugen“ (Novalis 1902: 123). Heinrich geht an der Seite des Alten mit bloßen Händen, den Bauer voran (Novalis 1902: 123). Der Unterschied zwischen ihm und dem Rest der Gesellschaft wird wieder deutlich. Aber auch der Mut der Übrigen wird gestuft: „Die Furchtsamsten gingen zuletzt und hielten ihre Waffen in Bereitschaft“ (Novalis 1902: 124); „Der Alte wollte nun weiter in den Berg, aber die Bauern fanden für ratsam, sich vor die Höhle zurückzuziehen … Heinrich, die Kaufleute und der Knabe[20] [ein Bauernsohn, ganz hingerissen von Steinen und Felsen, als Lehrling genommen] blieben bei dem Alten“ (Novalis 1902: 125). Wichtig ist, dass der alte Weise den Entschluss der Bauern, sich zurückzuziehen, nicht beurteilt. Es gibt Menschen, die nur bis zu einem gewissen Punkt in die Tiefen hinabsteigen können/wollen, wo die Geheimnisse der Welt und des Geistes zu entdecken sind. Man darf es diesen Menschen nicht übel nehmen: Der alte Bergmann gibt das Umstimmen auf; respekt- und verständnisvoll lässt er sie vor der Höhle bleiben. In der Gesellschaft voller Ungleichheit, dürfen wir also nicht von gegenseitiger Achtung vergessen, und lieber wäre es, sich die Mannigfaltigkeit der Charaktere zum Objekt der Freude zu machen, statt unzufrieden zu sein, dass sich etwas nicht unbedingt mit Allen teilen lässt.
          In der Höhle finden Heinrich und die Anderen einen Einsiedler. Es ist der Graf von Hohenzollern[21], der dort in der Einöde wohnt. Er und der alte Bergmann führen lange Diskussion über Einsamkeit und Entfernung von der Gesellschaft. Heinrich hört zu und erfährt, dass das Leben in der Einsamkeit keine Menschenfeindlichkeit bedeuten muss (Novalis 1902: 127) und könnte vorteilhaft sein. Solche Lebensart sei jedoch nicht für die jungen Leute geeignet. Der Graf von Hohenzollern erzählt:

„Es war eine Zeit in meiner Jugend, wo eine heiβe Schwärmerei mich veranlaβte, Einsiedler zu werden. Dunkle Ahndungen beschäftigten meine jugendliche Phantasie. Ich hoffte volle Nahrung meines Herzens in der Einsamkeit zu finden. Unerschöpflich dünkte mir die Quelle meines inneren Lebens. Aber ich merkte bald, daβ man eine Fülle von Erfahrungen dahin mitbringen muβ, daβ ein junges Herz nicht allein sein kann, ja daβ ein Mensch erst durch vielfachen Umgang mit seinem Geschlecht eine gewisse Selbständigkeit erlangt.“ (Novalis 1902: 128)

Das ist eine sehr wichtige Lehre, denn oft wird die Einsamkeit von den Menschen als Flucht vor der Welt gewählt, was jedoch die allerschlimmste Lösung ist: es besteht die Gefahr, dass es zur Entfremdung kommt. Sogar der altgewordene Graf – der Eisiedler – verzichtet nicht ganz und gar auf die gesellschaftlichen Kontakte – zwar sind sie sehr begrenzt, es gibt sie doch! (Novalis 1902:129)

          Der Anfang des sechsten Kapitels beinhaltet Überlegungen, die für unsere Arbeit von Schlüsselbedeutung sind. Es handelt sich um die Aufteilung der Menschen in Vita activa- und Vita contemplativa-Typen[22] (Ritzenhoff 2004: 63-64). Wir können vermuten, dass die Ansichten des Erzählers mit den des Novalis weitgehend identisch sind. Ein romantisches Individuum, beispielsweise ein Dichter, aber nicht nur ein Dichter wäre ein Vita contemplativa-Typus. Zeichnen wir uns die Charakteristik beider Typen, wie sie im Roman fündig ist:

Vita activa-Menschentypen
Vita contemplativa-Menschentypen
·        „Menschen, die zum Handeln, zur Geschäftigkeit geboren sind“ (Novalis 1902: 139).

·        Sie müssen überall selbst Hand anlegen … und sich gewöhnen, selbst im Drange groβer Begebenheiten den Faden ihres Zwecks festzuhalten und ihn gewandt hindurchzuführen (Novalis 1902: 139)

·        Ihre Seele ist „eine emsige, schnell entscheidende Dienerin des Verstandes“, und muss „nach auβen gerichtet“ sein  (Novalis 1902: 139).

·        „Sie sind Helden und um sie herum drängen sich Begebenheiten, die geleitet und gelöst sein wollen“ (Novalis 1902: 139).
·        Ruhige Menschen, „deren Welt ihr Gemüt,

·        deren Tätigkeit die Betrachtung,

·        deren Leben ein leises Bilden ihrer inneren Kräfte ist.“ (Novalis 1902: 139).


·        Ihre Seele ist eine „in sich gekehrte Zuschauerin“ (Novalis 1902: 139).

·        Sie sind genügsam (Novalis 1902: 139).

·        Verwunderung ist für sie kennzeichnend  (Novalis 1902: 139).

·        „Ein einfaches Leben ist ihr Los (Novalis 1902: 140).

          Wie ein einziges Menschwesen nicht nur aus dem Gemüt und nicht ausschließlich aus den „äußere[n] Gliedmaßen und Sinne[n]“ bestehen kann (Novalis 1902: 140), so ist auch die Gesellschaft ähnlich konstruiert: Die aktiven und die kontemplativen Menschentypen bilden zusammen eine Ganzheit, einen richtig funktionierenden Organismus. Wieder kommen wir also zur Schlussfolgerung, dass die Mannigfaltigkeit der Charaktere innerhalb der Gesellschaft eine positive Erscheinung ist; eine beinahe biologisch erklärbare Erscheinung.
          Berichten wir noch kurz über den Verlauf der Handlung. Es endet die lange Reise, die Wandrer kommen endlich in Augsburg an.  Der alte Schwaning begrüßt sie herzlich und ist vergnügt, seine Tochter und den nie vorhergesehenen Enkel zu sehen. Heinrich wird auf einen älteren Mann aufmerksam und dieser ist der Dichter Klingsohr. Nach einer Weile lernt er auch Mathilde kennen, die schöne Tochter des Letzteren. Heinrich wird dem Dichter als Lehrling empfohlen und verliebt sich in Mathilde. Am Ende des Kapitels träumt er den Tod seiner Geliebten, was jedoch der ewig dauernden Liebe kein Ende macht.
          Weil Heinrich als werdender Dichter dem Vita contemplativa-Typus zuzuschreiben ist, wird es im nächsten Kapitel mehr Platz dem Thema „Gemüt“ gewidmet. Gleich am Morgen nach der Ankunft beim Schwaning gehen Heinrich, sein neuer Meister und Mathilde gemeinsam ins Freie und unterhalten sich über Natur und Geist. 
          Klingsohr (und Novalis) lehrt den jungen Menschen, dass es ein Gleichgewicht zwischen dem Gemüt und dem Verstand geben muss, und dass dieses Gleichgewicht zu erreichen ist. „Begeisterung ohne Verstand ist unnütz und gefährlich“, lesen wir wie eine Warnung (Novalis 1902: 154). Klingsohr verurteilt den Begeisterungstaumel oder die Schwärmerei nicht, allerdings unter der Bedingung, dass diese „von selbst kommen und nicht gesucht werden“ (Novalis 1902: 155). Wenn man ab und zu solche Momente erlebt, ist das wohltuend. Wenn das jedoch zu oft vorkommt, wirkt es „ermüdend“ und „schwächend“ (Novalis 1902: 155) und es ist dann schwierig, „zu einer regelmäßigen und mühsamen Beschäftigung zurückzukehren“ (Novalis 1902: 155). Das besagte Gleichgewicht gilt auch für die Dichter:

„Die Poesie will vorzüglich … als strenge Kunst getrieben werden. Als bloβer Genuβ hört sie auf, Poesie zu sein. Ein Dichter muβ nicht den ganzen Tag müβig umherlaufen und auf Bilder und Gefühle Jagd machen. Das ist ganz der verkehrte Weg. Ein reines, offenes Gemüt, Gewandtheit im Nachdenken und Betrachten und Geschicklichkeit, alle seine Fähigkeiten in eine gegenseitig belebende Thätigkeit zu versetzen und darin zu erhalten, das sind die Erfordernisse unserer Kunst.“ (Novalis 1902: 156)

          In der Praxis bedeutet das, dass man viel lernen und lesen muss, sich u.a. viel in der Gesellschaft aufhaltend, um die Menschen und ihre Handwerke kennen zu lernen.
          Bemerkenswert ist auch die Äußerung von Klingsohr: „In der Nähe des Dichters bricht die Poesie überall aus“ (Novalis 1902: 157). Wenn man diese Aussage auf alle romantische Individuen erweitert, bekommt man folgende These: In der Nähe des romanischen Individuums bricht das Romantische überall aus. Es geht hier darum, dass ein Romantiker das Romanische an allen Dingen erkennt. Wie zum Beispiel ein Schnitzler die in den Baumstämmen verborgene Formen sieht, ein Tischler nur praktische Möbelstücke, ein Ornithologe dafür die Wohnstätte bestimmter Vogelarten, und ein Heide eine göttliche Erscheinung, wird ein Romantiker das Romantische überall sehen.
          Das Gespräch endet mit Heinrichs Liebeserklärung und offizieller Bitte um Mathildes Hand. Klingsohr lässt Mathilde die Entscheidung treffen[23]; die Bitte wird angenommen.
          Konzentrieren wir uns jetzt auf die weiteren vom Klingsohr angestellten Betrachtungen, mit welchen das nächste Kapitel anfängt, und welche als Fortsetzung des vorigen Gesprächs zu verstehen sind.
          Vorwiegend wird es über Poesie gesprochen. Der alte Dichter ist der Ansicht, dass sowohl im jeden einzelnen Menschen, wie auch in der ganzen Natur das Poetische und das Unpoetische vorkommt. „Es ist in ihr, wie in dem Menschen, ein entgegengesetztes Wesen, die dumpfe Begierde und die stumpfe Gefühllosigkeit und Trägheit, die einen rastlosen Streit mit der Poesie führen“ (Novalis 1902: 159). Man kann bei diesen Worten für eine Weile stehenbleiben, um nachzudenken, welche Konsequenzen eine solche „entgegengesetzte“ Konstruktion der Menschen im Angesicht ihres gesellschaftlichen Lebens hätte. Erstens wäre es der Mühe wert, sich selbst zu beobachten, um unterscheiden zu können, unter welchem Einfluss – des Poetischen, oder des Stumpfen/Trägen wir uns im einem konkreten Moment befinden. Diese Kenntnis des eigenen Selbst verursacht, dass man sich viel bewusster verhält. Andererseits, wenn wir uns darüber klar werden, dass in jedem, selbst dem scheinbar gefühllosesten Menschen das poetische Element verborgen lebt, können wir versuchen, es aus ihm herauszuziehen. Das Poetische/Romantische in uns kann das Poetische/Romantische in Anderen an sich ziehen. Wiederholen wir noch einmal Klingsohrs Worte: „In der Nähe des Dichters bricht die Poesie überall aus“ (Novalis 1902: 157). Daraus folgt, dass man mit seinem Gemüt unterbewusst seine Umgebung beeinflusst und, dass es sich vielleicht auch bewusst machen lässt. Klingsohr ist der Meinung, dass die Menschen oft nichts von ihrem poetischen Element wissen; das bedeutet jedoch nicht, dass es dieses Element deswegen nicht gibt. „Dichtet und trachtet nicht jeder Mensch in jeder Minute? … Man betrachte nur die Liebe. Nirgends wird wohl die Notwendigkeit der Poesie zum Bestand der Menschheit so klar als in ihr“ (Novalis 1902: 161).
          Auf diese Weise kommen wir zum Thema Liebe über. Die oben angeführte Aussage endet mit dem Versuch, den Zusammenhang von Poesie und Liebe zu erklären: „Die Liebe ist stumm, nur die Poesie kann für sie sprechen. Oder die Liebe ist selbst nichts als die höchste Naturpoesie (Novalis 1902: 161).
Danach geht der alte Dichter heraus. Heinrich und Mathilde bleiben allein. Jetzt führen sie miteinander ein entzücktes Liebesgespräch, sich gegenseitig ewige Treue schwörend. In diesem Gespräch wird sichtbar, wie heilig die Liebe dem Autor des Romans war. Wenn sein junger Held sagt:

„O, Geliebte, der Himmel hat dich mir zur Verehrung gegeben. Ich bete dich an. Du bist die Heilige, die meine Wünsche zu Gott bringt, durch die er sich mir offenbart, durch die er mir die Fülle seiner Liebe kund thut. … Ich habe ewig an dir zu atmen; meine Brust wird nie aufhören, dich in sich zu ziehn. Du bist die göttliche Herrlichkeit, das ewige Leben in der lieblichsten Hülle.“ (Novalis 1902: 162)

– wenn sein Held eine solche, beinahe religiöse, Liebesbekenntnis äußert, dann hören wir gleich Novalis` Worte, die er von seiner eigenen Braut geschrieben hatte: „Ich habe zu Söphen Religion, nicht Liebe“ (zit. nach: Prokoffieff 1987: 204). Durch Liebe können wir uns der Ewigkeit nähern, und fühlen, was Unsterblichkeit ist.
          Im Kapitel II.4 dieser Arbeit haben wir die „qualitative Potenzierung“ besprochen: „[d]urch die Einbildungskraft verwandelt und steigert man sich selbst und den anderen“ (Safranski 2007: 115). Heinrich spricht zu Mathilde: „Könntest du nur sehn, wie du mir erscheinst, welches wunderbare Bild deine Gestalt durchdringt und mir überall entgegenleuchtet, du würdest kein Alter fürchten. Deine irdische Gestalt ist nur ein Schatten dieses Bildes. … das Bild ist ein ewiges Urbild“ (Novalis 1902: 162, 163). Für den jungen Heinrich wichtig ist vor allem, was ihm die Geliebte bedeutet, und sie ist für ihn eine Glasscheibe zwischen der irdischen und der überirdischen Welt, durch die er das Höhere sehen kann. Die Liebenden ziehen etwas voneinander, wonach sie sich früher – als sie getrennt waren – nur sehnten. Es ist nicht nur ein Bund zweier Herzen – sondern es ist auch ein Bund des Gewöhnlichen mit dem Göttlichen.
         
          Das neunte Kapitel besprechen wir nur flüchtig, obwohl es ein wichtiger Teil des Romans ist. Es wird das sogenannte Klingsohr-Märchen erzählt – eine allegorische Geschichte, die mit der Darstellung der Welt als Sklavin des empirischen, des „versteinernden“ und des „versteinerten“ Verstandes beginnt (Ritzenhoff 2004: 84). Letzten Endes wird die Welt mit Kräften von Liebe und Poesie gerettet und nähert sich dem neuen „goldenen Zeitalter“. Dieses Märchen ist auch eine gewisse Vorwegnahme der Ereignisse im zweiten Teil des Romans (Ritzenhoff 2004: 78). Diese Tatsache ist von unschätzbarer Bedeutung, weil es nur den Anfang des zweiten Teils gibt. Novalis war es nicht gegeben, sein Werk beenden zu dürfen – der frühe Tod durchkreuzte alle Pläne. Obwohl das Märchen von einer so großen Bedeutung für die Handlung – und für die Deutung – des Romans ist, verzichten wir auf genauere Darstellung, denn Heinrich – der junge Held, dessen Koexistenz mit seinen Mitmenschen zu untersuchen das Anliegen der vorliegenden Arbeit ist, spielt hier die Rolle des Zuhörers. Das Eine muss jedoch hervorgehoben werden – das nämlich, dass es (wie das Märchen prophezeit) zur Aufhebung des (empirischen) Verstandes und des Todes kommen wird (Ritzenhoff 2004:103). Das ist sehr wichtig, wenn man, den zweiten Teil beginnend, von dem Tod Mathildes erfährt. Auch das scheint mit der Biographie des Autors verknüpft zu sein. Auch er hatte seine geliebte Sophie/Sophia früh verloren. Wie wir jedoch im Kapitel III dieser Arbeit feststellten, eben an ihrem Grab verklärten sich ihm die himmlischen Geheimnisse.

          Der zweite Teil, „die Erfüllung“, wie selbst der Name vermuten lässt, sollte ein gutes, optimistisches Ende haben, und den Lesern den Weg nach der „Erfüllung“ zeigen. Jedoch Heinrich – und Novalis – verlassen uns irgendwo in der Mitte dieses Weges. Bedauerlicherweise müssen uns nur die Ratschläge reichen, die wir bisher bekommen haben. Es gibt noch einen, und zwar ganz am Anfang des „Erfüllung“-Teils – einen solchen, der wie eine Warnung klingt.
          Im ersten Kapitel des „Erwartung“-Teils begegneten wir dem Vater von Heinrich, der einmal auch von der blauen Blume träumte, worüber er jedoch dann völlig vergaß, weil er sich gänzlich der Vita-activa gewidmet hatte. Im zweiten Teil, während eines Gesprächs denkt Heinrich darüber nach:

„Wohl … habe ich in ihm oft mit Schmerzen eine stille Wehmut bemerkt. Er arbeitete unaufhörlich aus Gewohnheit und nicht aus innerer Lust, es scheint ihm etwas zu fehlen, was die friedliche Stille seines Lebens, die Bequemlichkeiten seines Auskommens, die Freude, sich geehrt und geliebt von seinen Mitbürgern zu sehn und in allen Stadtangelegenheiten zu Rate gezogen zu werden, ihm nicht ersetzen kann. Seine Bekannten halten ihn für sehr glücklich, aber sie wissen nicht, wie lebenssatt er ist, wie Leer ihm oft die Welt vorkommt, wie sehnlich er sich hinweg wünscht, und wie er nicht aus Erwerblust, sondern um diese Stimmung zu verscheuchen, so fleißig arbeitet.“ (Novalis 1902: 205)

Das ist eine Warnung für jene romantischen Individuen, die mitten im Weg nach ihrer Erfüllung stehenbleiben, oder zurückkehren: Die zweite Chance kann es nicht geben; wenn ihr sie verpasst, sei es aus Angst, Bequemlichkeit, Schwäche, oder wegen der Gesellschaft, die euch an sich angepasst sehen will, könnt ihr das später bedauern. Mit der Gesellschaft, wie uns der Roman zeigt, kann man friedlich leben, wenn man wirklich danach strebt. Aber es ist unmöglich, mit sich selbst im Frieden zu sein, wenn man auf eigene Erfüllung verzichtet.
Gleich darauf werden wir noch einer Warnung fündig. Es handelt sich um die zerstörerische Wirkung der elterlichen Erzeugung, die oft nichts als eine Manipulation ist, ein Aufzwingen eigener Gesinnungen und Lebensweise. Auch hier können wir eine Parallele zwischen dieser Stelle im Roman und Novalis` Biographie finden. Wenn man sich an das schwierige und komplizierte Verhältnis erinnert, in dem der junge Friedrich mit seinem Vater stand, was eben durch den Versuch des Sohnes, einen etwas anderen Weg zu gehen, verursacht wurde, dann wundert uns die folgende Stelle im „Ofterdingen“ nicht:

[über Heinrich:] „Ihr habt von Glück zu sagen, dass ihr habt aufwachen dürfen, ohne von Euren Eltern die mindeste Beschränkung zu leiden, denn die meisten Menschen sind nur Überbleibsel eines vollen Gastmahls, das Menschen vom verschiedenen Appetit und Geschmack geplündert haben.“ (Novalis 1902: 205)

          Lassen wir die Warnung in dieser Form ausklingen, ohne sie in unnütze Worte zu bekleiden. Die Botschaft ist direkt und braucht nicht, analysiert zu werden.
          Mit diesen zwei Warnungen wollen wir nun den Teil der Arbeit abschließen, die dem unvollendeten Roman des jungverstorbenen Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis, gewidmet war.


6.   Schlussbetrachtung


Die vorliegende Arbeit sollte die Antwort auf die Frage geben, inwieweit es für ein romantisches Ich möglich ist, in der Gesellschaft ungestört zu existieren, und wie es sich seinen Mitmenschen gegenüber verhalten sollte, um sich eine friedliche Koexistenz mit ihnen zu erringen, ohne dabei seine eigene Individualität opfern zu müssen.
          Nach der kritischen Untersuchung des gewählten literarisch-philosophischen Stoffes, worunter der erste – vollendete – Teil des Romans von Novalis zu verstehen ist,[24] können wir Folgendes feststellen: Ein romantisches Individuum kann in der Gesellschaft existieren, ohne dabei seine Individualität zu verlieren. Dies ist jedoch nur dann möglich, wenn die Welt- und Selbsterkenntnis sowie das „Poetisieren“ von gewisser Disziplin, Wachsamkeit und respektvollem Verhalten begleitet werden; empfehlenswert ist auch, eine solche Lebensart zu wählen, die mit den Ansichten und der Natur des Menschen übereinstimmen würde – darunter wird vor allem die passende Arbeitsstelle gemeint.
          Die Lösung der Frage ist also positiv. Es gibt Wege, die nach der Koexistenz führen. Diese Wege sind jedoch lang, manchmal vielleicht mühsam; Abkürzungen gibt es in diesem Fall nicht. Trotzdem sind diese Wege betretenswert, denn – wenn man sich aufgibt und den Anderen anpasst, was das gleiche ist mit dem Versuch, eigene Natur zu verdrängen – dann findet man am Ende seiner Wanderung keine Zufriedenheit, geschweige denn eine Erfüllung.

7.   Zusammenfassung auf Polnisch



Niniejsza praca magisterska to w pewnym sensie poradnik, stworzony z myślą o duchowych spadkobiercach romantyzmu, o ludziach, którzy szukając wszędzie poezji, głębokiego sensu, mistycyzmu, muszą przecież żyć, zarabiać, dawać sobie radę w społeczeństwie. Problem koegzystencji indywiduum romantycznego ze społeczeństwem jest nadal bardzo aktualny. 
          W celu znalezienia odpowiedzi na pytanie, w jaki sposób indywiduum romantyczne powinno postępować, żeby zapewnić sobie jak najlepsze stosunki ze społeczeństwem, autorka tej pracy obrała sobie za cel krytyczną analizę nieukończonej powieści jednego z czołowych przedstawicieli niemieckiego romantyzmu – piszącego pod pseudonimem „Novalis” Friedricha von Hardenberga.
          Przygotowaniem do tej analizy była część teoretyczna pracy, gdzie konflikt pomiędzy indywiduum romantycznym a społeczeństwem omówiono w nieco szerszym aspekcie, przedstawiając pokrótce poglądy różnych twórców epoki romantyzmu, a także podłoże filozoficzne. Następnie została przedstawiona biografia Novalisa, gdzie szczególny nacisk położono na duchowy rozwój i światopogląd pisarza. Tamże postawiona została również teza, że w przypadku jego mistycyzmu, nie da się mówić o wyobcowaniu lub o odsunięciu się od ludzi. Teza ta znajduje swoje potwierdzenie w szczegółowej analizie nieukończonej powieści „Heinrich von Ofterdingen”. Ponieważ jest to dzieło światopoglądowe, należy przyjąć, że rozwiązania sytuacji konfliktowych, ukazane w powieści, zalecane są przez jej autora.
          Bardzo dokładnie zanalizowano i zinterpretowano szereg różnych sytuacji, ukazanych w powieści, od – wydawałoby się – bardzo błahych, związanych z codziennym życiem, po bardziej złożone, gdzie w grę wchodzi na przykład manipulacja lub gdzie trzeba podjąć decyzje, mające zaważyć o własnej i nie tylko własnej przyszłości. Analiza nie zamyka się do postępowania głównego bohatera, można ją również traktować jako przyczynek do analizy własnych zachowań.
          Wnioski po zbadaniu materiału są optymistyczne: koegzystencja pomiędzy indywiduum romantycznym a społeczeństwem jest możliwa, a dróg, wiodących do tego celu jest wiele. Tym niemniej wymagana jest czujność, praca nad samym sobą, pewna dyscyplina. Bardzo ważnym okazuje się szacunek względem innych, czy przyglądanie się sprawom z różnych perspektyw. Dowiadujemy się też, jak ważne w tym wszystkim jest życie zgodne z własnymi przekonaniami i z własną naturą.

8.   Literaturverzeichnis und Bildquellen



Aguart, Julia, Eine romantische Liebe in Briefen. Zur Liebeskonzeption im Briefwechsel von
             Sophie Mereau und Clemens Brentano
. Königshausen & Neumann. Würzburg 2005

Böttcher, Kurt, Mittenzwei, Johannes, Berger, Karl Heinz, Schaefer, Klaus, Grohnert Dietrich:
             Romantik. Volk und Wissen. Volkseigener Verlag. Berlin 1973

Charpentier, Marc, Cros, Rotraud, Dupont, Ute, Marcou, Carmen, Sprechende Bilder. Deutsch
             lernen mit Kunstbildern. Caspar David Friedrich: Kreidefelsen auf Rügen.
Verlag
             Klett Edition Deutsch. München 1993
Dohmke, J.: Novalis` Werke. Fouqués Undine. Meyers Klassiker-Ausgaben. Leipzig-Wien 1902
Friedemann, Hermann: Novalis` Werke in vier Teilen. Zweiter Teil. Deutsches Verlagshaus
             Bong & Co. Berlin-Leipzig-Wien-Stuttgart ohne Jahr
Janion, Maria, Romantyzm Rewolucja Marksizm. Wydawnictwo Morskie. Gdańsk 1972
Lutz, Bernd, Jeβing, Benedikt: Metzler Autoren Lexikon. Deutschsprachige Dichter und
             Schriftsteller vom Mittelalter bis zur Gegenwart.
J.B. Metzler. Stuttgart-Weimar 2004
Meding, Dorothee: Über romantische Subjektivität. Inauguraldissertation zur Erlangung des
             Grades eines Doktors der Philosophie im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der
             Johann Wolfgang Goethe-Universität.
Frankfurt am Main 1981
Ritzenhoff, Ursula: Erläuterungen und Dokumente. Novalis. Heinrich von Ofterdingen. Philipp
             Reclam jun. Stuttgart 2004
Safranski, Rüdiger: Romantik. Eine deutsche Affäre. Carl Hanser Verlag. München 2007
Schmitt, Hans-Jürgen, Die deutsche Literatur in Text und Darstellung. Romantik I. Philipp
             Reclam jun. Stuttgart 1993
Schmitt, Hans-Jürgen, Die deutsche Literatur in Text und Darstellung. Romantik II. Philipp
             Reclam jun. Stuttgart 1992
Senckel, Barbara: Individualität und Totalität. Aspekte zu einer Antropologie des Novalis. Max
             Niemeyer Verlag. Tübingen 1983
Straszewska, Maria: Romantyzm. Państwowe Zakłady Wydawnictw Szkolnych. Warszawa
             1969
http://esensja.pl/ksiazka/wywiady/tekst.html?id=1643

Bildquellen (der Reihe nach):
http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:Caspar_David_Friedrich_053.jpg&filetimestamp=20080217202201
http://de.wikipedia.org/wiki/Abtei_im_Eichwald
http://de.wikipedia.org/wiki/Kreidefelsen_auf_R%C3%BCgen
http://weisheiten-aus-jahrtausenden.de/person.php?author=Novalis,
http://catdirtsez.blogspot.com/2012/05/show-review-skrillex-wolfgang-gartner.html












[1] Es ist üblich, die Endphase der literarischen Romantik in der bürgerlich-demokratischen Bewegung um 1830  (Böttcher et al. 1973: 77) zeitlich  zu orten, jedoch auch das Jahr 1848 wird oft in Frage genommen.
[2] Als musikalische Strömung erstreckte sich die Romantik von ca. 1820 bis über die Grenzen des 19. Jahrhunderts.  
[3] Dies betrifft auch die Emanzipation auf künstlerischem Gebiet.
[4] Jena wurde 1799 zum Treffpunkt beinahe aller Schriftsteller und Theoretiker der frühen Romantik. (Böttcher et al. 1973: 79)
[5] Herausgegeben seit 1798 von den Brüdern Schlegel; eingestellt 1800. (Böttcher et al. 1973: 79)
[6] Nicht vergessen soll aber die Tatsache werden, dass Klassik und Romantik parallel verliefen.
[7] Ein Beispiel für die so genannte “romantische Ironie”. Vgl. den Aufsatz „Ironie – Begriff und Methode“ (Schmitt 1993, 2: 99).
[8] Man kann hierbei das bekannte Novalis` Fragment „Die Christenheit oder Europa“ als Beispiel erwähnen (Schmitt 1993, 1: 161-182).
[9] Der Begriff wurde von einem der Haupttheoretiker der Romantik, Friedrich Schlegel, geprägt. Das Wort „universal“ weist auf die Verschmelzung aller getrennten Gattungen hin; der „progressive“ Charakter bezieht sich auf eine gezielte Unabgeschlossenheit, auf das ständige Werden, in dem die romantische Dichtart sein sollte. (Böttcher et al. 1973: 111-112).
[10] Die Philosophie des Novalis wurde von ihm selbst nicht systematisiert. Man kann diesen Sachverhalt dem frühen Tod des Dichters zuschreiben; das gezielte Verorten der philosophischen Inhalte im literarischen Werk kann aber auch den Voraussetzungen der „progressiven Universalpoesie” entsprechen und somit den Absichten des Autors.
[11] "Zeitung für die elegante Welt" (Nr. 250/1829)
[12] Gutes Beispiel dafür wäre die Klage von Ludwig Tieck: „Vielleicht rührt manchen Leser das Fragmentarische dieser Verse und Worte so wie mich, der nicht mit einer andächtigern Wehmut ein Stückchen von einem zertrümmerten Bilde des Raphael oder Correggio betrachten würde“ (Tieck in: Novalis 1902: 255).
[13] Schleiermacher vermied in der Regel Anführungen von Liederversen in seinen Predigten. Nur selten finden sich dort einzelne „geliehene“ Wendungen; ganze Strophen zu zitieren war ihm undenkbar. Die Predigt aus dem Jahre 1831 stellt also die einzige Ausnahme dar (Hardenberg 2010: 280).
[14] Am 29. Dezember 1912.
[15] Novalis schreibt darüber in einem Brief an Friedrich Schlegel: „Philosophie ist die Seele meines Lebens, und der Schlüssel zu meinem eigenen Selbst“ (Hardenberg  2010: 135).
[16] Auf diese Weise charakterisierte sie F. Schlegel (Safranski 2007: 110).
[17] Natur, Mensch und Geist fließen zusammen, vereinigen sich, was Novalis` Vorstellungen des neuen „goldenen Zeitalter“ entspricht.
[18] Es erhebt sich hier die Frage, was kann ein Schöngeist/Künstler tun, der kein Glück hat, Anerkennung und Belohnung zu genießen, sei es wegen irgendwelcher „Rahmenbedingungen“ oder – fürchten wir das nicht zu sagen – wegen mangelnder Begabung (es gibt sicherlich viele Menschen, die einen Sinn für die schönen Künste haben, die aber selbst mittelmäßig darin sind – zu klein, um sich daraus eine richtige Beschäftigung machen zu können). Novalis meinte, dass das schlimmste, was man sich selbst antun kann, ist ein Leben in Unzufriedenheit (Hardenberg 2010 : 80). Ob die Umstände für uns günstig sind, oder nicht, müssen wir alles machen, um ruhig zu bleiben. Vieles darüber finden wir in einem der Briefe des Dichters, den er am 16. März 1793 an seinen geliebten Bruder Erasmus geschrieben hatte . Erasmus war auch ein sehr begabter junger Mann, selbst Novalis versprach sich von ihm viel. Unglücklicherweise erkrankte er schwer und sein Arzt riet ihm – wegen sitzender Lebensart – das weitere Studieren ab. Der Vater schickte ihn nach Hubertusburg, wo er nun das Forstfach praktisch erlernen sollte (Hardenberg 2010: 75). Es fällt nicht schwer sich vorzustellen, wie Erasmus damals zusammengebrochen sein musste. Novalis schrieb ihm Folgendes: „Glaube mir, wir können Alles aus uns selbst herausbilden, und nichts von innerlicher Zufriedenheit und Beständigkeit ist an eine äußerliche Stelle gebunden. Man hat Langeweile und Verdruβ, findet Unbedeutendheit und Leerheit, martert sich mit kränkelnder Empfindung und Phantasie, ebenso gut in den vielseitigsten Verhältnissen, wie in dem beschränktesten Zirkel“ (Hardenberg 2010: 72-73). Und weiter: „Das nil admirari des Horaz und zweckmäßige, anhaltende Beschäftigung, sind Hilfsmittel, seinen Charakter fest und seine Ruhe, Unbefangenheit und gute Laune dauerhaft zu machen“ (Hardenberg 2010: 74).
[19] Derjenige, der sich mit Novalis` Aufsatz „Christenheit oder Europa” vertraut gemacht hatte, wird diese These bestimmt nicht verneinen.
[20] Die Tatsache, dass der Knabe - ein Bauernsohn - mit Heinrich und dem Alten Schulter an Schulter vorwärts geht, kann so gedeutet werden, dass die Fähigkeit, sich dem Überirdischen zu nähern, unabhängig ist von der Ausbildung, dem gesellschaftlichen Stand und dem Alter.
[21] Es handelt sich um eine fiktive, nicht etwa historische Gestalt (Ritzenhoff 2004: 57).
[22] Diese lateinischen Bezeichnungen treten im Roman nicht auf.
[23] Das ist eine wichtige Stelle im Roman, denn sie stimmt mit dem romantischen Programm der Frauenemanzipation überein. Die Frau, nicht die Familie, entscheidet, ob sie jemanden heiraten wird oder nicht.
[24] Genauer gesagt – die ersten acht Kapitel des ersten Teils und der Anfang vom ersten Kapitel des zweiten Teils.

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